Ornament ist kein Verbrechen

Im Jahr seines 200. Geburtstages sind Werk und Lehre des Architekten Gottfried Semper aktueller denn je

von Dankwart Guratzsch

Der Architekt Gottfried Semper schuf mit der Semperoper in Dresden sein bedeutendstes Werk  
Der Architekt Gottfried Semper schuf mit der Semperoper in Dresden sein bedeutendstes Werk
Foto: dpa

 

Im Eingang der 4. Grundschule am Rosengarten in Dresden-Neustadt stehen Eltern und Schüler dicht gedrängt. Schulleiterin Margitta Klapper sagt: "Das ist für uns ein besonderer Tag." An den Wänden hängen Schautafeln mit Fotos und Texten. Sie zeigen eine feine Villa: Terrasse, Rundbogenarkaden, karyatidengeschmückte Pfeiler. Das weiße Haus hoch über der Elbe, nach dem sich einst die Spaziergänger die Hälse reckten, gibt es nicht mehr. Es stand an gleicher Stelle, an der sich jetzt der Plattenbau der Schule erhebt.

Diese Villa ist der Grund für die Feier, denn an diesem 29. November 2003 gedenkt die Stadt Dresden des 200. Geburtstages von Gottfried Semper. Er hat das Haus im palladianischen Stil für den Bankier Oppenheim als Sommerresidenz erbaut, und mitten unter den Kindern sitzt die Rentnerin Irmgard Müller, die es noch von innen gekannt hat und von der viele der Fotos stammen. "Die Schüler aller zwölf Klassen", erklärt die Schulleiterin, "haben an diesem Dokumentationszentrum mitgearbeitet. So wollen wir die Liebe zu unsrer Heimatstadt pflegen." Dann verteilt sie 60 Kerzen, und die kleine Prozession geht hinaus in den nachtfinstren Garten. Eine Bronzebüste und eine Gedenktafel werden enthüllt. Denn wenn die Villa auch "völlig aus dem Gedächtnis der Bevölkerung geschwunden ist", wie eine Kunsthistorikern einräumt, soll sie doch als Fatamorgana zurückgeholt, ja sogar nachgebaut" werden. Denn die Villa Rosa des 36 Jahre alten Semper ist der Prototyp der einst berühmten Villenbaukunst des "deutschen Florenz" (Herder) schlechthin. "Wir werden ihren Grundriss im Schulhof markieren. Dann könnt ihr selbst hinein ins Wohnzimmer und in die Küche und ins Schlafzimmer", verspricht ein untersetzter Herr mit Vollbart und heiserer Stimme. Es ist Klaus Tempel, der "Vater" der Dresdner Semper-Feiern 2003, der an diesem regennassen Tag schon viele Reden halten musste.

Dass eines Architekten, der vor 124 Jahren gestorben ist, mit soviel Aufwand, soviel offizieller Ehrerbietung, aber auch soviel inniger Zuwendung gedacht wird, ist überraschend. Parallel zu Dresden feierte seine Geburtsstadt Hamburg ihren Sohn mit einer Ausstellung und einer Festveranstaltung, zeigen München und Zürich glanzvolle Werkschauen.

Und doch ist Semper in keiner anderen Stadt so hymnisch und anhaltend gewürdigt und gepriesen worden wie jetzt in Dresden, wo er mit 31 Jahren seine Laufbahn begann und doch nur anderthalb Jahrzehnte tätig war. Seit Februar wurde mit zehn Semper-Akademien, drei Kabinettausstellungen, mit zwei großen wissenschaftlichen Kolloquien, mit Konzerten, Buchvorstellungen, Schüleraufführungen, der Übergabe einer Sonderbriefmarke und einer Sondermünze, mit Sonderführungen und einem Semper-Fest dem Mann gehuldigt, der der Stadt das einzige Opernhaus der Welt geschenkt hat, das den Namen seines Architekten trägt.

Aber das ist es nicht allein, was Semper zum Helden einer Stadt macht, die der steckbrieflich gesuchte Barrikadenkämpfer von 1849 nicht im Frieden verlassen hat und in den ihn die Bürger doch zurückgeholt haben - "die erste deutsche Bürgerinitiative", so Oberbürgermeister Ingolf Roßberg.

Erst jetzt, nach hundert Jahren Semper-Schmähung in Kunstwissenschaft und Architekturlehre, wird erkennbar: Semper, dieser vorwärtsstürmende, in modernen Gesellschaftsbegriffen denkende Geist, war der geborene Antipode des 20. Jahrhunderts und seiner Architektur- und Städtebaulehren, noch ehe es begonnen hatte.

So wie bereits Schinkel vor der "rein radicalen Abstraktion" warnte, verwahrte sich Semper gegen die "Nacktheit" von Konstruktionen, gegen Schematismus und sture Rationalität im Bauen, gegen das Zerfließen der Städte und ihre Zerstörung durch immer breitere Straßen. Und er knüpfte an die Kunst die kühne Vision: "Je größer und reicher das öffentliche Leben zu werden verspricht, in gleichem Maße beschränkt sich das Privatbedürfnis."

Könnte es sein, dass die Semper-Feiern von 2003 von einer neuen Sehnsucht nach solchen Idealen künden? Dass es wirklich so etwas wie ein neues Schmuckbedürfnis gibt, dass Ornamentierung, Symbolik, tieferer Sinn und Geschichtlichkeit in der Baukunst, die in der Dresdner Semper-Oper und ihrem Nachbarbau, der Semper-Galerie, Triumphe feiern, wieder gefragt sind? Kein Satz ist heute so "out" wie der des Propheten der Ausnüchterung, Adolf Loos: "Ornament ist Verbrechen."

Vielleicht lehrt das Beispiel der Schule am Rosengarten, wie selbstverständlich die von Semper erhoffte Bildung der Geschmackskultur junge Menschen wieder begeistern kann. Und doch scheint diese Botschaft nicht bei allen angekommen zu sein: auf dem Semper-Kolloquium der Kunstwissenschaftler fehlten die Architekten. Die Dresdner Professoren, die an einer der größten Technischen Universitäten Deutschlands lehren, zeigten sich weder selbst interessiert noch hatten sie mehr als zehn ihrer Studenten für den großen Vorgänger begeistern können. Statt mit Blumen schmückten sie Sempers Denkmal mit einem Kranz.

Artikel erschienen am 3. Dez 2003