Dresdner Neueste Nachrichten,
15./16. September 2007

Debatte um einen Neubau des Gewandhauses am Neumarkt:
Heinrich Magirius, bis 2000 Landeskonservator, plädiert dagegen

Konsens, Konflikt, Kontrast
Von HEINRICH MAGIRIUS

Gegen die Konzeption und Durchführung des Wiederaufbaus des Dresdner Neumarktgebiets lässt sich viel Kritisches sagen. Aber dass das Platz- und Straßenbild am Neumarkt dank der Andeutung historischer Parzellen-Einheiten und historischer Fassadengliederungen die Wirkung der Frauenkirche unterstützt, dürfte unbestreitbar sein. Dafür spricht nicht zuletzt die selbstverständliche Akzeptanz des Platzes durch Einheimische und Gäste. Die städtebauliche Wirkung des kirchlichen Monumentalbaus im städtebaulichen Rahmen der ehemaligen Bürgerstadt war auch das Motiv seit den neunziger Jahren, für diese Lösung einzutreten, immer eingedenk auch dessen, dass das Ergebnis weder strengen denkmalpflegerischen Maßstäben entspricht noch den Architekten der Gegenwart viel Spielraum lässt.

Mit der Diskussion um einen Neubau an der Stelle eines seit mehr als 200 Jahren verschwundenen Bauwerks, des Gewandhauses, eines aus dem 16. Jahrhundert stammenden Renaissancegebäudes an der Westseite des Platzes, flammt noch einmal eine städtebauliche Frage auf, die mit dem Ziel, den Neumarkt im Wesentlichen in der Gestalt der Zeit vor 1945 wieder aufzubauen, schon beantwortet war. Die Gründe für diesen Schwenk, am Neumarkt doch noch einmal der "Moderne" zum Zuge zu verhelfen, sind vielschichtig. Der der Stadt Dresden gehörige Grund und Boden des ehemaligen Gewandhauses verspricht materiellen Nutzen. Es ist aber auch nicht abzustreiten, dass das von Bellotto verewigte Renaissancegebäude des Gewandhauses der "städtebaulichen Raumbildung", vor allem dem Jüdenhof und der südlichen Platzerweiterung des Neumarkts zusätzliche städtebauliche Reize verliehen hat. Auf diese von Wolfgang Rauda in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts beschriebenen städtebaulichen Werte konzentriert sich auch heute noch die Architektenschaft, ohne zugeben zu wollen, dass das von Bellotto in der Mitte des 18. Jahrhunderts dargestellte Platzbild auch in vielen anderen Wesenszügen sich von dem unterscheidet, was am Neumarkt erst nach den Zerstörungen des Siebenjährigen Krieges Gestalt angenommen hat und heute selbstverständlich zum Maßstab des Wiederaufbaus gewählt wurde.

Über die Frage, ob ein Ersatzneubau des Gewandhauses am Ende des 18. Jahrhunderts nur zufällig unterblieb oder schon aus städtebaulichen Einsichten dieser Zeit, lässt sich trefflich streiten. Sicher aber ist, dass den Architekten und Städtebauern des 19. und 20. Jahrhunderts die angeblich so zwingend erforderliche städtebauliche Wichtigkeit der Wiederbebauung des Gewandhausgrundstückes nie in den Sinn gekommen ist. Als Zeuge dafür sei an Gottfried Semper erinnert, der 1842 seinen Ladeneinbau "Elimeyer" in der Häuserzeile, die hinter der Lücke des Gewandhauses entstanden war, vornahm. Auch hat die Stadt Dresden nach dem Neubau des Gewandhauses an der Kreuzstraße 1768 - 1770 nie materielle Begehrlichkeiten im Hinblick auf den ehemaligen Platz des Gewandhauses angemeldet, obwohl im Unterschied zur heutigen Zeit im 19. Jahrhundert außerordentliche Not an bebaubarem städtebaulichen Raum herrschte.

Die Architekten, die jetzt eine Wiederbebauung aus städtebaulichen Gründen fordern, sollten sich fragen lassen, ob ihre Begründung wirklich ganz aufrichtig ist oder nur der Vorwand, an dieser Stelle einen Neubau verwirklicht zu sehen. Am Ende spielen wohl historische Argumente tatsächlich nur eine zweitrangige Rolle.

Im Mittelpunkt der ästhetischen Diskussion steht vielmehr die Frage, ob man am Neumarkt einen Neubau eines sehr großen, etwa dem Bauvolumen des Johanneums entsprechenden Gebäudes haben will oder nicht. Ein Wettbewerb sollte zeigen, ob das ohne Schaden für das von der Frauenkirche dominierte Platzbild möglich ist. Die Ergebnisse sind nicht ermutigend. Die Pläne für einen Neubau lassen - so unterschiedlich die Vorschläge auch sind - das Bemühen um "Zeitgemäßheit" erkennen. Jedenfalls soll sich der entstehende Solitärbau nicht dem schon erkennbaren Charakter des Platzbildes einordnen. Mit Argumenten, die in anderen historischen Stadtstrukturen Europas durchaus berechtigt sind, wird auch hier der Reiz des "Kontrastes" beschworen. Am Neumarkt aber ist außer an der Frauenkirche kaum ein Stein historisch und das geschaffene neue Platzbild zielte darauf ab, der Frauenkirche zur angemessenen Wirkung zu verhelfen.

Der krampfhafte Versuch, sich an dieser Stelle des Gewandhauses "modern" gebärden zu müssen, ist jedenfalls gegenüber dem Vorhandenen kontraproduktiv, ist ein Schlag ins Gesicht der bisherigen städtebaulichen Idee und Leistung und wohl nicht nur das: Der Frauenkirche soll ein Solitär gegenüber gestellt werden, der die Aufmerksamkeit auf sich zieht und das Gegenüber bewusst macht. Mehr oder weniger leiden alle bisherigen Vorschläge an dem Zwang, eine angeblich zeitgemäße Antwort auf die Frauenkirche zu finden. Dabei gibt es mehr oder weniger gelungene Lösungen, aber keinem Vorschlag haftet die Selbstverständlichkeit an, die guten städtebaulichen Leistungen eigen sein muss. Das geben einfühlsame Architekten auch zu. Merkwürdigerweise bemerkt das aber das breite Publikum sehr viel deutlicher als viele Fachleute. Wohl deshalb, weil diese - Architekten und Theoretiker - noch immer an ihrem Selbstverständnis festhalten, die Gegenwart habe sich auch noch heute prinzipiell in Kontrasten zum Vergangenen darzustellen. Und nur solches Verhalten sei "wahrhaftig", wohingegen die bisherigen Bemühungen um Andeutung der Parzellenstruktur und Leitfassaden "Kostümparade", ja "Verlogenheit" nachgesagt wird.

Es wird behauptet, dass die Idee Hans Nadlers, "Leitbauten" zum Maßstab des Neuen zu machen, gescheitert sei. Richtig an dieser Kritik ist Manches. So erwies es sich als unmöglich, für die alten kleinen Parzellen einzelne Investoren zu finden. Aber auch die Sorgfalt am Detail ist teilweise mangelhaft. Solche Beobachtungen können aber die Grundentscheidung, die bereits in den neunziger Jahren getroffen worden ist, keineswegs prinzipiell infrage stellen.

Es ist unschwer vorauszusagen, dass sich aus dem Streit um das Gewandhaus ein neuer ideologischer Stellungskrieg in Dresden entwickeln wird. Auch diese für Dresden typische Auseinandersetzung wird mit aller Erbitterung geführt werden und wieder werden - wenn der Bau des Gewandhauses durchgesetzt wird - in diesem Falle viele Verlierer wenigen Siegern unversöhnt gegenüberstehen. Das hinterlässt - das sollten Politiker bedenken - schwer heilbare Spuren im Selbstbewusstsein der Dresdner Bevölkerung. Mit Populismus haben solche Beobachtungen nicht im Geringsten etwas zu tun. Der verantwortliche Rat der Stadt, der schon bisher mit großer Vorsicht an das Problem herangegangen ist, sollte sich deshalb dem Vorschlag des Vereins Historischer Neumarkt e. V. annähern, den Platz ohne den Neubau eines Gewandhauses zu vollenden. Sollte der Platz dann wirklich unbefriedigend wirken, so besteht immer noch die Möglichkeit, an der Stelle des Gewandhauses ein neues, möglichst gutes Gebäude zu errichten. Wird aber der Neubau auf Drängen der Fachleute durchgeboxt und befriedigt nicht, besteht nur noch die Möglichkeit, ihn bald wieder abzureißen.

Heinrich Magirius
ist Kunsthistoriker. 1989 erhielt er eine Professur an der Hochschule für Bildende Künste Dresden.
Von 1994 - 2000 war er Sächsischer Landeskonservator. Er unterstützte den Wiederaufbau von Semperoper, Residenzschloss und Frauenkirche.

zurück zu News