Salzburger Nachrichten am 17. Juli 2004 - Bereich: Feuilleton
Dresdens dritte Zerstörung
Mit dem Wiederaufbau der Frauenkirche
bemüht sich die einst barocke Partnerstadt Salzburgs um eine Reparatur
ihrer Geschichte. Schon jetzt ist die Frauenkirche für Dresden
ein hervorragender Werbeträger im internationalen Stadtmarketing.
REINHARD SEISS
Das markanteste Datum in der Chronik der sächsischen Landeshauptstadt
bleibt wohl für immer der 13. Februar 1945, als alliierte Bomber
die gesamte Innenstadt bis auf wenige Gebäude zerstörten.
Vom einzigartigen Ensemble entlang der Elbe wurden bereits zu DDR-Zeiten
die Oper von Gottfried Semper, der Zwinger von August dem Starken,
die katholische Hofkirche sowie Teile des Schlosses rekonstruiert.
Der Großteil der Residenz sowie die alles überragende Frauenkirche
lagen hingegen 50 Jahre lang in Schutt und Asche. Von den barocken
Bürgerhäusern im Zentrum Dresdens blieb so gut wie nichts
mehr übrig, da die sozialistischen Stadtplaner der späten
40er und 50er Jahre die ausgebrannten Reste der feudalen Architektur
dem Erdboden gleichmachten. Die Geschichte wird massiv verfälscht Schon wenige Tage nach
der Wende drängten erste Bürgerinitiativen auf eine Wiederherstellung
der historischen Stadt - um Dresden sein ursprüngliches Gesicht,
seine Identität wiederzugeben. Dass dabei - wie bei der schon
weit fortgeschrittenen Rekonstruktion des Schlosses - auf zeitgenössische
Architektur verzichtet wird, werten Kritiker jedoch als blinden Historismus.
Noch dazu, da man die Residenz nicht im Vorkriegszustand wiedererrichtet,
sondern jene Epochen nachbaut, die Sachsens Glanz und Glorie am eindrucksvollsten
repräsentieren. Sprich - es entsteht ein bauhistorischer Cocktail
aus Renaissance, Barock und Klassizismus, der in dieser Form nie existiert
hat. So wird die Geschichte Dresdens nicht nur gekittet, sondern massiv
verfälscht - und die Altstadt gerät zu einem Freilichtmuseum. Unterwegs zurück in die Zukunft Diskussionen gab es auch um
den Wiederaufbau der Frauenkirche. Die Ruine des einst bedeutendsten
sakralen Kuppelbaus nördlich der Alpen stellte das mit Abstand
bewegendste Mahnmal Deutschlands gegen Krieg und Zerstörung dar.
Wurde der Trümmerhaufen in der DDR zu einem Symbol der Friedensbewegung,
so forderte die Bürgerschaft Dresdens nach der Wende eine ursprungsgetreue
Rekonstruktion der Kirche. Historiker warfen ein, dass man auch Monumentalbauten
eine Vergänglichkeit zubilligen müsse - und Ruinen sehr
wohl ihre Bedeutung hätten. Wenn man sich die Freiheit nähme,
herausragende Werke der Geschichte nach Belieben zu wiederholen, entwerte
man alle authentischen Baudenkmäler - auch jene in Dresden. Denkmalpfleger plädierten dafür, die Kriegsspuren im Zuge
des Wiederaufbaus zumindest nicht gänzlich zu beseitigen. Im
Außenbereich, wo die Arbeiten nach elf Jahren Bauzeit am 22.
Juni mit der Schluss-Steinsetzung der Kuppel ihren feierlichen Abschluss
fanden, ist diese Chance nun allerdings vorbei. Aber auch im Innenbereich,
der bis Herbst 2005 fertiggestellt wird, erfolgt die Rekonstruktion
mit archäologischer Akribie. Manche Forderungen der Nostalgiker
schießen dabei über jedes Ziel hinaus: So soll die Frauenkirche
auch ihre barocke Orgel aus dem Jahr 1736 wiedererhalten - obwohl
eine originalgetreue Nachbildung dem technischen und musikalischen
Standard heutiger Orgeln in keiner Weise mehr entspricht. Neben Nostalgie sprechen auch massive wirtschaftliche Gründe
für den eingeschlagenen Weg der Stadtreparatur. Schon jetzt ist
die Frauenkirche für Dresden ein hervorragender Werbeträger
im internationalen Stadtmarketing - vergleichbar mit dem von Christo
verhüllten Reichstag in Berlin oder Frank O. Gehry’s
Guggenheim-Museum in Bilbao. Der Frauenkirchen-Shop versorgt Besucher
aus aller Welt mit Merchandising-Artikeln, selbst in den USA wird
für den Sakralbau gesammelt - und japanische Fernsehteams berichten
regelmäßig über den Baufortschritt. Die Rekonstruktion
des zerstörten Dresden wird so zu einem global beachteten Event
und verhilft der Stadt - zumindest im touristischen Sinn - tatsächlich
zu einer neuen Identität. Das Umfeld der Frauenkirche ist nach wie vor eine weitläufige
Brache. Bis 1945 lag hier das Herzstück der Dresdner Innenstadt,
das sogenannte Neumarkt-Viertel. Schon zu DDR-Zeiten gab es Pläne,
den Neumarkt wieder aufzubauen. Dazu wollte man den historischen Straßenverlauf
aufgreifen sowie etwa 20 der einst prachtvollen Bürgerhäuser
rekonstruieren. Seit der Wende ist auf Drängen konservativer
Dresdner Bürger die Zahl der geplanten Nachbildungen auf bis
zu 80 angestiegen. Mit innerstädtischen Nutzungsmix Vor zwei Jahren sammelte der
Verein "Historischer Neumarkt Dresden" 65.000 Unterstützungserklärungen
für die Forderung, den gesamten Neumarkt in seiner barocken Erscheinung
wieder erstehen zu lassen. Einige Traditionalisten verlangten sogar
den Abriss des nahegelegenen Kulturpalasts aus dem Jahr 1969, um auch
dort ein Stück Altstadt neu zu bauen. Der Dresdner Stadtplanung hingegen geht es weniger um das Erscheinungsbild
als um die Funktionalität der neuen Innenstadt. So sahen die
Planer für den Neumarkt-Bereich eine kleinteilige und differenzierte
Bebauung vor - durchaus auch mit moderner Architektur, vor allem aber
mit einem zeitgemäßen innerstädtischen Nutzungsmix:
elegante Läden und Restaurants in den Erdgeschossen, erstklassige
Büros und Praxen in den Obergeschossen und attraktive Wohnungen
im Dachbereich. Eine solche Vielfalt setzt allerdings voraus, dass
der Neumarkt in möglichst kleinen Einheiten von möglichst
vielen Bauträgern entwickelt wird. Die wirtschaftshörige
Stadtregierung aber veräußerte ganze Quartiere an einige
wenige Großinvestoren - und verhinderte parallel dazu jeglichen
Erlass von Bebauungs- und Gestaltungsvorschriften für den Wiederaufbau,
um ja keinen Bauherrn zu verschrecken. Was nun droht, sind Großkaufhäuser, Bürokomplexe
und Hotels von der Dimension ganzer Gebäudeblöcke - die
sich der rückwärtsgewandten Bürgerschaft zu Liebe mit
altertümlichen Fassaden tarnen. Zur erhofften Urbanität
der neuen Dresdner City werden diese monofunktionalen Bauten wenig
beitragen. Die Paradoxie des sächsischen Historismus zeigt am
Besten das Beispiel der jahrhundertealten Kellergewölbe unter
dem Neumarkt, die sowohl den Krieg als auch die DDR-Zeit überstanden
hatten - jetzt aber den Tiefgaragen der neu zu errichtenden Altstadt
im Wege stehen. Daher werden die letzten authentischen Zeugnisse der
Renaissance und des Barock unter der Erde Platz machen müssen
für historische Trugbilder über der Erde. Wertvolle und wertlose Baudenkmäler Der lebendigste und alltäglichste
Teil im Zentrum Dresdens ist ebenfalls ein bauliches Zeugnis der Geschichte
- allerdings aus einer weniger verklärten Zeit: Die autoverkehrsfreie
Prager Straße, von 1965 bis 1972 im Geiste der Moderne entstanden,
ist ein weltweit einzigartiges Beispiel des sozialistischen Städtebaus.
Das großmaßstäbliche Ensemble umfasst Hochhäuser
und Flachbauten, Zeilen- und Scheibenbauten, einen Rundbaukörper
sowie Ruhe- und Aufenthaltszonen in der Mitte. Seit 1989 ist dieses
Monument aus Beton aber wieder in Bewegung geraten. Denn nach der Wende wurde begonnen, den 60 Meter breiten Boulevard
durch neue Einbauten zu verdichten und auf den ursprünglichen
Straßenquerschnitt von 18 Metern rückzuführen. Was
als "Reparatur der Geschichte" verkauft wird, ist nichts anderes als
die Kommerzialisierung der Straße durch die Verbauung öffentlichen
Raums mit Büro- und Geschäftshäusern. Mit dem Argument,
eine urbane Enge zu schaffen, wird die städtebauliche Idee der
späten 60er Jahre mehr und mehr pervertiert. Nach der Bombardierung
im Zweiten Weltkrieg und dem städtebaulichen Kahlschlag zu DDR-Zeit
gilt das Baugeschehen seit der Wende daher unter Kritikern als dritte
Zertörung Dresdens. Das einzige Symbol droht zu verschwinden Ob es durch Niederlassungen
internationaler Mode- und Elektrohandelsketten tatsächlich gelingen
wird, das einstige Image der Prager Straße als mondäne
Einkaufsmeile zurückzugewinnen, ist fraglich. Zweitklassig ist
jedenfalls die Qualität der heutigen Architektur - auch wenn
sich die Konzerne Mühe geben, und ihre Baukomplexe als Konzession
an das alte Dresden mit Sandstein verkleiden. Dadurch kommt nur noch deutlicher zum Ausdruck, dass eine Weiterentwicklung
des kühnen, modernen Konzepts der Prager Straße in der
breiten Öffentlichkeit kaum auf Interesse stößt. Ganz
zu schweigen von einem möglichen Denkmalschutz für das international
beachtete, urbanistische Gesamtkunstwerk. So droht das einstige Symbol des neuen Dresden langsam zu verschwinden
- ohne dass die Stadt merkt, dass sie dadurch an Charakter und Einzigartigkeit
verliert.Dipl.-Ing. Reinhard Seiß ist Stadtplaner, Filmemacher
und Fachpublizist in Wien und produzierte eine TV-Dokumentation über
den Wandel Dresdens seit 1989. |