Sächsische
Zeitung, Donnerstag, 18. Februar 2010
Was läuft schief am Dresdner Neumarkt?
Von Katrin Saft
Unter dem Titel Perspektiven veröffentlicht die SZ kontroverse
Essays, Kommentare und Analysen zu aktuellen Themen. Texte, die aus
der ganz persönlichen Sicht des Autors Denkanstöße geben, zur Diskussion
anregen sollen. Heute: Im Dauerstreit um historisierendes oder zeitgenössisches
Bauen am Dresdner Neumarkt werden immer wieder sogar preisgekrönte
Entwürfe attackiert. SZ-Redakteurin Katrin Saft analysiert, wer dahinter
steckt und wie weit Bürger Investoren reinreden dürfen.
Torsten
Kulke ist der Typ netter Familienvater: verheiratet, zwei Kinder,
jungenhaftes Lachen. Doch wer Kulke unterschätzt, begeht einen schweren
Fehler.
Der 44-Jährige organisiert den kollektiven Widerstand: den Protest
gegen Architekten und Investoren, die seiner Meinung nach das Herz
von Dresden ein zweites Mal zerstören wollen – mit gesichtslosen Neubauten,
mit seelenloser „Kistenarchitektur“, mit Stahl, Glas und Beton.
Kulke zieht die Strippen in der Gesellschaft Historischer Neumarkt
– einer Bürgerbewegung, die in ihrer elfjährigen Geschichte immer
aufmüpfiger geworden ist.
Kaum ein Bauvorhaben am Platz neben der Frauenkirche, das bei den
Barockfans nicht in Ungnade fällt.
Das gläserne Stufendach im Prisco-Quartier „eine Katastrophe“, die
Fassade des gerade eröffneten Inside-Hotels „ein Skandal“, das Staffeldach
des Schütz-Residenz-Anbaus „ein krasser Stilbruch“.
Kriegserklärung an den guten Geschmack
Grotesk, dass immer wieder auch preisgekrönte Pläne attackiert werden:
Der Entwurf einer Stuttgarter Architektin für ein modernes Gewandhaus
– „eine Kriegserklärung an den guten Geschmack“. Der Siegerentwurf
einer Dresdner Architektin für Neubauten am Hotel de Saxe – nach Drohungen
vom Investor zurückgezogen. Was läuft schief am Neumarkt?
An keinem Ort in Dresden ist das Trauma der Zerstörung 1945 noch so
gegenwärtig wie hier. Beim Wiederaufbau des Platzes geht es nicht
nur um die Rückgewinnung der Mitte, sondern der Identität der Stadt.
Als die Gesellschaft 1999 antrat, kämpfte sie vordringlich für ein
Maximum an Rekonstruktionen. Inzwischen, wo 60 von rund 250 Häusern
als originalgetreu zu errichtende Leitbauten definiert sind, tobt
der Streit vor allem um Ergänzungsbauten, für die es keine ausreichende
oder nachahmenswerte historische Grundlage gibt.
Dieser Streit um angepasst historisierendes oder zeitgenössisch modernes
Bauen ist zum Kulturkampf ausgeartet. Ähnlich wie bei der Waldschlößchenbrücke
lässt die Diskussion dabei oft jegliche Sachlichkeit vermissen. Während
die einen über „Theaterkulissen“, „Disneyland“ und die „Simulation
historischer Architektur auf Tiefgaragen“ herziehen, wettern die anderen
über eine „strukturierte Verhässlichung“ und über „armselige, austauschbare
Abschreibearchitektur“ in der guten Stube der Stadt.
Nerven liegen blank
Wie sehr die Nerven blank liegen, zeigt eine Mail an den Bauausschuss,
in der das Vorgehen der Stadt als „faschistisch“ bezeichnet und Dresdens
oberster Stadtplaner mit Hitler verglichen wird. Die Mail bezog sich
auf einen modernen, preisgekrönten Entwurf in der Inneren Neustadt,
auf die die Gesellschaft jetzt ihre Zuständigkeit ausgedehnt hat.
Zwar distanziert sie sich von der „Meinung eines Nichtmitglieds“,
doch für die Architektenschaft ist das Maß voll. „Sosehr wir Engagement
zur Pflege von Baukultur begrüßen, so sehr verurteilen wir den herabwürdigenden
Umgang mit architektonischer Leistung“, sagt Matthias Horst, Chef
der Kammergruppe Dresden.
Zweifellos sind die Verdienste der Neumarkt-Gesellschaft enorm. Sie
hat nicht nur den Architekturdisput in der breiten Öffentlichkeit
entfacht, sondern durch Nachforschungen, Bücher und Visualisierungen
viel zur Aufarbeitung der Geschichte beigesteuert. „Alles aus Liebe
zu Dresden“, sagt Torsten Kulke. Denn Geld gebe es dafür nicht. 100
000 Stunden, schätzt er, haben die 700 Mitglieder inzwischen ehrenamtlich
gekämpft.
Die eigentliche Protestarbeit aber leisten sieben Leute im Vorstand
– darunter die Kunsthistorikerin und Diplomatengattin Birgit Lucas
und der Kunsthistoriker Stefan Hertzig. Das prominenteste Mitglied
der Gesellschaft, Nobelpreisträger Günter Blobel, finanziert Hertzig
eine freie Beraterstelle beim Landesamt für Denkmalpflege. Auch die
eindrucksvollen 3-D-Visualisierungen barocker Vergangenheit hat Blobel
bezahlt. Der 73-Jährige, der selbst zwei Grundstücke am Neumarkt besitzt,
agiert im Stillen. Bei seinem Dresden-Besuch am Wochenende war er
einmal mehr zu keinem öffentlichen Statement über seine Bauabsichten
bereit.
Fäden des Widerstands laufen bei Kulke zusammen
Bei Torsten Kulke laufen alle Fäden des Widerstands zusammen. Der
gefühlt wichtigste Architekturkritiker der Stadt ist von Haus aus
Elektriker und hat heute ein Büro für Haustechnik. Im Fernstudium
büffelt er gerade Betriebswirtschaft – und arbeitet sich mit zäher
Vehemenz durch die Niederungen von Fassadenstrukturen, Dachformen
und Baumaterialien. 20 Stunden die Woche investiert er für die Gesellschaft:
koordiniert, weist an, verfasst Pressemitteilungen. Problem nur: er
sorgt zwar regelmäßig für einen Aufschrei, findet aber allzu oft kein
Gehör. Nicht nur, dass Stadt und Investoren den Fundus der Gesellschaft
kaum nutzen. Sie beziehen „die Querulanten“ nicht wirklich ein. Und
so bleibt den Ehrenamtlichen bloß, offene Briefe zu verfassen, Protestschreiben
und Pressekonferenzen zu organisieren. Dort werden nicht nur eigene
Alternativpläne, sondern sogar „bessere“ Investoren präsentiert –
Ausschreibungsrecht hin oder her. Dabei fährt Kulke schon mal starke
Geschütze auf. Er spricht von einem „Scheitern der Nachkriegsmoderne“,
von einem „überholten Städtebau“, was ein von Bürgern aufgestelltes
„Protestklo“ am neuen, steinernen Postplatz beweise. So eine kalte
Architektur ohne Aufenthaltsqualität wolle man am Neumarkt verhindern.
Die Architektenschaft nimmt die geballte Kritik erstaunlich reaktionslos
zur Kenntnis. „Die Architektenkammer ist als Körperschaft des öffentlichen
Rechts nicht in der Lage, zu einzelnen Bauprojekten Stellung zu nehmen“,
sagt Gruppenchef Horst. Ohnehin gebe es zu Architektur immer unterschiedliche
Meinungen.
Auch die Stadt lässt sich von der Gesellschaft regelmäßig vor sich
her treiben. Die Oberbürgermeisterin versucht, Betonkritiker mit Blumenkübeln
zu besänftigen, hält sich aus dem Grundsatzstreit aber raus. Das Baudezernat
agiert seit Jahren unbeirrbar nach dem gleichen Prinzip: Es verhandelt
mit einem Investor und gibt ihm Gestaltungsspielregeln vor. Der Investor
finanziert einen Architektenwettbewerb. Eine für die Öffentlichkeit
gesichtslose Gestaltungskommission aus Denkmalpflegern und Architekten
berät. Bauausschuss und Stadtrat segnen die Ergebnisse ab – und die
Neumarkt-Gesellschaft protestiert. Sie sieht in der Gestaltungskommission
mehrheitlich „Handlanger betont modernen Bauens“ sitzen – und trifft
damit zumeist den Nerv der Bürgerschaft. Die Barockfreunde fordern
mehr Transparenz und Einbeziehung und würden Investoren am liebsten
ein Korsett in Form eines Bebauungsplanes anlegen.
Legitimiert sieht sich die Gesellschaft durch 63.000 Dresdner, die
2004 ein Bürgerbegehren für einen historischen Neumarkt unterschrieben
haben. Doch ist sie wirklich immer die Stimme „der Dresdner“? Und
wie weit dürfen Bürger einem Investor reinreden?
Neumarkt einer der teuersten Bauplätze Sachsens
Der Neumarkt zählt mit Quadratmeterpreisen um die 4000 Euro zu den
teuersten Bauplätzen Sachsens. Investoren wollen eine Rendite, und
Dresden ist nicht München, wo Bauwillige Schlange stehen. Baywobau-Chef
Berndt Dietze, der zu den „historisch aufgeschlossenen“ Investoren
zählt, klagt zudem darüber, dass altes Bauen und moderne Nutzung oft
nicht in Einklang zu bringen sind. „So viele Kellerrestaurants kann
Dresden gar nicht verkraften, wie am Neumarkt historische Gewölbe
erhalten werden sollen“, sagt er.
Dass Wunsch und Wirklichkeit oft auseinanderliegen, muss die Gesellschaft
jetzt schmerzlich selbst erleben. Ausgerechnet diejenigen, die anderen
seit Jahren Vorschriften machen, laborieren an ihrem eigenen Bau.
Immer wieder stehen für das barocke Bürgerhaus an der Rampischen Straße
29 die Kräne still. Um das Zwei-Millionen-Projekt finanzieren und
betreiben zu können, musste es in eine Kulturstiftung überführt werden.
Das erwies sich als zäh. „Bis August wollen wir aber fertig sein“,
versichert Kulke.
Unterdessen hat sich bei Architekten und Investoren über die Grenzen
von Deutschland hinaus herumgesprochen, dass sich das Bauen am Dresdner
Neumarkt durch Dauerstreit um Jahre verzögern kann – so wie zum Beispiel
am Gewandhausgrundstück. Selbst Barockpapst Günter Blobel sind jetzt
für seinen Leitbau Hotel Stadt Rom die Hände gebunden – wegen eines
bizarren Streits um die Verschattung des Nachbarhauses.
„Glauben Sie, dass noch ein Stararchitekt zu uns kommt, wenn er weiß,
dass sein Entwurf gnadenlos öffentlich zerrissen wird?“, sagt Baubürgermeister
Jörn Marx. Trotzdem hofft er, dass der Platz in zehn Jahren komplett
bebaut ist – mit einem „qualitätsvollen Mix aus Alt und Neu“. Viel
Historisches soll dabei noch kommen: das British Hotel zum Beispiel,
das Schlosshotel mit Löwenhof, das Palais Hoym auf der Brache am Polizeipräsidium.
Städte mit eigenen Rekonstruktionsplänen wie Frankfurt am Main oder
Potsdam beobachten das Geschehen in Dresden genau. Neumarkt-Kämpfer
Kulke bekommt inzwischen nicht nur Interview-Anfragen aus Deutschland,
sondern sogar von Kanada-TV. Der Wiederaufbau des Neumarktes ist eines
der wenigen Großprojekte, mit denen Dresden international Maßstäbe
setzen kann. Zumindest darin herrscht ausnahmsweise Einigkeit.
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