Vom Sehen:
Schein und Sein
Reizvolle Ausblicke aus den Frauenkirchenfenstern am Dresdner Neumarkt.
Die Glasscheiben der wiederaufgebauten Barockkirche sind bewußt
nicht mit "perfekter" Klarheit hergestellt, sondern weisen
zeittypische Materialstrukturen ehemaliger Glasbeschaffenheit auf.
Das neue Glas spielt mit Schein und Sein.
Die dabei leicht irritierenden Verzerrungen beim Sehen entstehen allerdings
erst in unserem Auge beim hoch kunstvollen Prozess des Betrachtens
und "Reflektierens".
Die Barockarchitektur um die Mitte des 18. Jahrhunderts liebte übrigens
dieses Vortäuschen von Illusionen und Spiegelungen, das Spiel
mit Traum und Realität.
In den europäischen Metropolen Paris, Prag, Wien, Venedig, London
oder eben Dresden steigerte eine gebildete höfische Gesellschaft
ihre äußerst
verfeinerte Unterhaltungslust und ein raffiniert täuschendes
(Masken-) Spiel bis zu den ausgeklügeltsten Wirkungen. Der fantastischen
Mittel gab es reichlich: geistvolles Blendwerk, die Sinne betäubende
Kulissen und grell- optische Effekte. Das mit Spiegeln vollgehängte
Dresdner "Grüne Gewölbe" ist z.B. typisch für
diese illusionäre Raumkunst.
Allein das eingedeutschte Wort "Kulisse" stammt aus dem
Französischen coulisse und bezeichnete in der barocken französischen
Theaterklassik Schiebewände. Corneille, Racine, Molière liebten
diese mobilen, schnell wechselnden Dekorationen für ihre illusionären
Kunsträume, die gesehene "Realität" auf ganz eigene
Weise reflektierte und rückinszenierte.
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Grünes
Gewölbe (Pretiosensaal) im Dresdner Residenzschloss (Aufnahme
1933), von dem Franzosen Raymond Leplat, der als Ordonneur de
cabinet (Innenarchitekt) die acht Prunkräume 1721 bis 1724
schuf. Die Weiterentwicklung der Spiegelherstellung blühte
besonders im 18. Jh. aus diesem Wunsch, Illusionen zu erzeugen,
enorm auf.
(Voraussichtlich Herbst 2006 eröffnet das rekonstruierte
historische Grüne Gewölbe.) |
Fritz Löffler
schreibt der Förderung des "Spiels" sogar als eine
besonders starke gruppenbildende Kraft zu, als eines der "wesentlichen
kulturformenden Elemente in der Zeit vor August dem Starken".
Dem hedonistischen Genuss machte dann tatsächlich die wahrheitsliebende
Romantik um 1800 ein Ende. Als eine bürgerliche Gegenbewegung
prangerte sie die Barockzeit (bzw. den Rokoko) und ihre realitätsausblendende
Fürstenwelt als dekadent und "verlogen" an, in Allemagne
freilich massvoller als in France. Das lustige Spielen war bei unserem
inspirierenden Nachbarvolk mit der Großen Französischen
Revolution bereits 1789-95 dahin gegangen.
Am Beginn des neuen Jahrhunderts wurde, im Zuge napoleonischer Besetzung,
Dresden allerdings erneut zu einem geistigen Kraftfeld innerhalb Deutschlands
und dem Kontinent insgesamt (siehe: Museum
zur Dresdner Romantik: Kügelgenhaus). Allerdings spielte
die romantische Malerei und Dichtung auch mit geheimnisvollen, hintergründigen
Stimmungen- als Kompensation einer als zu kompliziert empfundenen
Realität zwischen Säkularisierung und rasantem technischen
Fortschritt.
Barock, Romantik, Realismus: gesellschaftliche Kultur ist in diesem
bewegten Wandel wohl immer auch Gewinn und Verlust zugleich.
Europa neu denken
Auch die neuen
Bürohäuser und Hotels am Neumarkt werden für eine anspruchsvolle
europäische (bzw. globale) Freizeitgesellschaft mit "Echtheit"
und "Lüge" spielen. Aber wir Betrachter sind Teil dieses
Spiels (zu dem auch der traurige Ernst unserer gemeinsamen gesamteuropäischen
Geschichte gehört). Die Häuser sind tatsächlich keine
blossen Attrappen, sondern ein reales Stück Stadt. Nur passiert
hinter der Bürofassaden, die alle zeitgenössischen Standards
medialer Technik aufweisen werden, etwas anderes, als was vorn durch
ein erzählendes "Theater" dem Publikum dargeboten wird.
Es ist ein Spiel in einer zunehmend ohnehin zwischen virtueller und
realer Welt changierenden Zeit. Insofern: its time to play again,
freuen uns
auf einen Flirt zwischen Moderne und Barock.
Freuen kann man sich auch auf eine Wiederentdeckung Frankreichs in
Dresden. Unsere französichen Nachbarn, in deren Sprache sich
die gebildete Welt um 1750 in Europa unterhielt, entwickelten schließlich
als führende Kulturnation im 18. Jahrhundert mit Esprit und Ironie
Leitbilder für den gesamten Kontinent (z.B. Voltaire "Candide"
1759). Auch die Kultur des barocken Dresden war ganz stark von Frankreich
inspiriert (natürlich auch von Böhmen und Österreich
- siehe Stefan Herzig, Das Dresdner Bürgerhaus in der Zeit August
des Starken, Dresden 2001).
Ein großteil dieser legendären barocken Festkultur hatte
mit s'amuser zu tun (= amüsieren), also sich zwanglos und
heiter vergnügen. Auch das brachte August der Starke als
Weltläufigkeit von seinen Reisen mit ins protestantische Dresden
- Fête machen. Zur Inszenierung dieser mitreißenden Feste
waren städtische Plätze nötig, wie eben der Festplatz
Neumarkt.
Der alteuropäische neue Neumarkt wird Vergangenheit und Zukunft
unseres Kontinents auf intelligente Weise verknüpfen. Unser zusammenwachsendes,
altes Europa inszeniert sich so im neuen 21. Jahrhundert, friedlich
und geläutert, gemeinsam neu. Wir wollen mit dem Wiederaufbau
des Neumarktes an eine lange europäische Tradition anknüpfen,
die Regionalität mit international-europäischen Strömungen
miteinander kunstvoll verflochen hat. Auf ein neues starkes Europa,
verbunden durch ein Netz starker Regionen, mit starken Zentren!
April 2005
Blick vom Schloßturm - Richtung Osteuropa
Linktip: Passage Frankreich-Sachsen - Ausstellung vom 07.März
bis 13. Juni im Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig bzw. vom 25. Juni
bis 31. August 2004 im Jagdschloss Moritzburg. Sie zeigte die Vielfalt
sächsisch-französischer Beziehungen seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert.
www.uni-leipzig.de/zhs/passage/de/rundgang/index.htm
Thomas Kantschew
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