Vom Sehen. Schein und Sein
von Thomas Kantschew

 


Vom Sehen: Schein und Sein

Reizvolle Ausblicke aus den Frauenkirchenfenstern am Dresdner Neumarkt.
Die Glasscheiben der wiederaufgebauten Barockkirche sind bewußt nicht mit "perfekter" Klarheit hergestellt, sondern weisen zeittypische Materialstrukturen ehemaliger Glasbeschaffenheit auf. Das neue Glas spielt mit Schein und Sein.
Die dabei leicht irritierenden Verzerrungen beim Sehen entstehen allerdings erst in unserem Auge beim hoch kunstvollen Prozess des Betrachtens und "Reflektierens".

Die Barockarchitektur um die Mitte des 18. Jahrhunderts liebte übrigens dieses Vortäuschen von Illusionen und Spiegelungen, das Spiel mit Traum und Realität.
In den europäischen Metropolen Paris, Prag, Wien, Venedig, London oder eben Dresden steigerte eine gebildete höfische Gesellschaft ihre
äußerst verfeinerte Unterhaltungslust und ein raffiniert täuschendes (Masken-) Spiel bis zu den ausgeklügeltsten Wirkungen. Der fantastischen Mittel gab es reichlich: geistvolles Blendwerk, die Sinne betäubende Kulissen und grell- optische Effekte. Das mit Spiegeln vollgehängte Dresdner "Grüne Gewölbe" ist z.B. typisch für diese illusionäre Raumkunst.
Allein das eingedeutschte Wort "Kulisse" stammt aus dem Französischen coulisse und bezeichnete in der barocken französischen Theaterklassik Schiebewände. Corneille, Racine, Molière liebten diese mobilen, schnell wechselnden Dekorationen für ihre illusionären Kunsträume, die gesehene "Realität" auf ganz eigene Weise reflektierte und rückinszenierte.

Grünes Gewölbe im Residenzschloss Dresden - vor 1945   Grünes Gewölbe (Pretiosensaal) im Dresdner Residenzschloss (Aufnahme 1933), von dem Franzosen Raymond Leplat, der als Ordonneur de cabinet (Innenarchitekt) die acht Prunkräume 1721 bis 1724 schuf. Die Weiterentwicklung der Spiegelherstellung blühte besonders im 18. Jh. aus diesem Wunsch, Illusionen zu erzeugen, enorm auf.
(Voraussichtlich Herbst 2006 eröffnet das rekonstruierte historische Grüne Gewölbe.)

Fritz Löffler schreibt der Förderung des "Spiels" sogar als eine besonders starke gruppenbildende Kraft zu, als eines der "wesentlichen kulturformenden Elemente in der Zeit vor August dem Starken".
Dem hedonistischen Genuss machte dann tatsächlich die wahrheitsliebende Romantik um 1800 ein Ende. Als eine bürgerliche Gegenbewegung prangerte sie die Barockzeit (bzw. den Rokoko) und ihre realitätsausblendende Fürstenwelt als dekadent und "verlogen" an, in Allemagne freilich massvoller als in France. Das lustige Spielen war bei unserem inspirierenden Nachbarvolk mit der Großen Französischen Revolution bereits 1789-95 dahin gegangen.
Am Beginn des neuen Jahrhunderts wurde, im Zuge napoleonischer Besetzung, Dresden allerdings erneut zu einem geistigen Kraftfeld innerhalb Deutschlands und dem Kontinent insgesamt (siehe: Museum zur Dresdner Romantik: Kügelgenhaus). Allerdings spielte die romantische Malerei und Dichtung auch mit geheimnisvollen, hintergründigen Stimmungen- als Kompensation einer als zu kompliziert empfundenen Realität zwischen Säkularisierung und rasantem technischen Fortschritt.
Barock, Romantik, Realismus: gesellschaftliche Kultur ist in diesem bewegten Wandel wohl immer auch Gewinn und Verlust zugleich.

Europa neu denken

Auch die neuen Bürohäuser und Hotels am Neumarkt werden für eine anspruchsvolle europäische (bzw. globale) Freizeitgesellschaft mit "Echtheit" und "Lüge" spielen. Aber wir Betrachter sind Teil dieses Spiels (zu dem auch der traurige Ernst unserer gemeinsamen gesamteuropäischen Geschichte gehört). Die Häuser sind tatsächlich keine blossen Attrappen, sondern ein reales Stück Stadt. Nur passiert hinter der Bürofassaden, die alle zeitgenössischen Standards medialer Technik aufweisen werden, etwas anderes, als was vorn durch ein erzählendes "Theater" dem Publikum dargeboten wird. Es ist ein Spiel in einer zunehmend ohnehin zwischen virtueller und realer Welt changierenden Zeit. Insofern: its time to play again, freuen uns auf einen Flirt zwischen Moderne und Barock.

Freuen kann man sich auch auf eine Wiederentdeckung Frankreichs in Dresden. Unsere französichen Nachbarn, in deren Sprache sich die gebildete Welt um 1750 in Europa unterhielt, entwickelten schließlich als führende Kulturnation im 18. Jahrhundert mit Esprit und Ironie Leitbilder für den gesamten Kontinent (z.B. Voltaire "Candide" 1759). Auch die Kultur des barocken Dresden war ganz stark von Frankreich inspiriert (natürlich auch von Böhmen und Österreich - siehe Stefan Herzig, Das Dresdner Bürgerhaus in der Zeit August des Starken, Dresden 2001).

Ein großteil dieser legendären barocken Festkultur hatte mit s'amuser zu tun (= amüsieren), also sich zwanglos und heiter vergnügen. Auch das brachte August der Starke als Weltläufigkeit von seinen Reisen mit ins protestantische Dresden - Fête machen. Zur Inszenierung dieser mitreißenden Feste waren städtische Plätze nötig, wie eben der Festplatz Neumarkt.

Der alteuropäische neue Neumarkt wird Vergangenheit und Zukunft unseres Kontinents auf intelligente Weise verknüpfen. Unser zusammenwachsendes, altes Europa inszeniert sich so im neuen 21. Jahrhundert, friedlich und geläutert, gemeinsam neu. Wir wollen mit dem Wiederaufbau des Neumarktes an eine lange europäische Tradition anknüpfen, die Regionalität mit international-europäischen Strömungen miteinander kunstvoll verflochen hat. Auf ein neues starkes Europa, verbunden durch ein Netz starker Regionen, mit starken Zentren!

April 2005


Blick vom Schloßturm - Richtung Osteuropa


Linktip: Passage Frankreich-Sachsen - Ausstellung vom 07.März bis 13. Juni im Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig bzw. vom 25. Juni bis 31. August 2004 im Jagdschloss Moritzburg. Sie zeigte die Vielfalt sächsisch-französischer Beziehungen seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert.
www.uni-leipzig.de/zhs/passage/de/rundgang/index.htm


Thomas Kantschew