Finger weg von den harten Drogen!

Der Fall Paulinerkirche: Warum wir manchmal historische Bauwerke rekonstruieren müssen

von Hans Kollhoff

Man hat sich an die Klischees in der deutschen Architektur-Berichterstattung gewöhnt, wenn es um ein so heikles städtebauliches Thema wie den Wiederaufbau der Leipziger Paulinerkirche geht. Jetzt hat sich auch die "Neue Zürcher Zeitung" der Debatte angenommen - mit denselben Stereotypen. Sie fordern zum Widerspruch. Wann wurde in der Schweiz die letzte Kirche gesprengt? Nicht irgendeine, sagen wir eine der ältesten Kirchen mitten in der Stadt, etwa das Zürcher Fraumünster.

Die Sprengung der Leipziger Paulinerkirche war in der Tat so ungeheuerlich, dass uns im Erläuterungsbericht unseres Wettbewerbsbeitrages die Freud'sche Fehlleistung unterlaufen ist, von Kriegszerstörung zu sprechen - und darüber hat man sich in der Jury lustig gemacht. Gerade 20 Jahre nach einem grausamen Krieg, der im benachbarten Dresden die gesamte Innenstadt in Trümmer gelegt hat, wurde in Leipzig, politisch-ideologisch motiviert, unter den Augen der fassungslosen Bevölkerung, die Paulinerkirche gesprengt. Hier geht es also nicht um die Frage: Wie modern sollen wir bauen? Und was ist das eigentlich, modern? Sondern es geht primär - wenn nicht ausschließlich - um die Wiedergutmachung eines verbrecherischen Aktes. Und das gelingt weder mit "streng orthogonalen Konzepten" noch mit einer "Reminiszenz an den Giebel der Paulinerkirche".

Die "Rekonstruktionsmanie" die die Kritiker derzeit in Deutschland "grassieren" sehen, kommt ja nicht von ungefähr. Die Physiognomien unserer vom Kriege lädierten Städte wurden ein halbes Jahrhundert lang mit avancierten planerischen Methoden und fortschrittlichster Technik einem Zerrbild, einer Karikatur von "Stadt" zugeführt, die sich von Flensburg bis Lörrach gleicht. Unter unseren Augen hauchen diese Wunderwerke einer europäischen Stadtkultur im Urban Entertainmentcenter einer Geiz-Ist-Geil-Gesellschaft ihr Leben aus. Das haben inzwischen alle erkannt, mit Ausnahme der Architekten und einiger Hardliner unter den Intellektuellen, die mit ihrer Wahrhaftigkeit immer noch die Welt beglücken wollen. Offenbar dauert es ein halbes Jahrhundert, bis das Verlusterlebnis dort durchschlägt, wo es um die Frage der persönlichen Herkunft und des eigenen Selbstverständnisses geht, um Erinnerung und Heimat, die eine geistige, aber auch eine physische Eigenart voraussetzen.

Man hat in Münster den Prinzipalmarkt wieder aufgebaut, in Karlsruhe und Würzburg das Schloss und die ganze Lübecker Altstadt, gleich nach der Zerstörung. In Dresden wurde über Jahrzehnte der Zwinger rekonstruiert und schließlich die Frauenkirche, die sich schon jetzt niemand mehr aus dem Stadtbild wegdenken kann. In zehn Jahren wird sich keiner mehr die Frage stellen, ob es sich hier um ein Original handelt oder eine Kopie, man wird staunend zur Kuppel hochschauen und den Bürgern mit ihren Baumeistern dankbar sein, die dieses Werk aufgerichtet haben.

Woher kommt nur die Angst der Architekturkritik, in Leipzig könnte tatsächlich die Paulinerkirche wiedererstehen? Dabei werden die abwegigsten Argumente ins Feld geführt: Ein Turm könne den anderen "bedrängen", ihm die Schau stehlen, und dabei wird das Hochhaus von Hermann Henselmann in Schutz genommen, das gerade von einem stolzen Universitätsgebäude in ein trauriges Bürogebäude verwandelt wurde und dabei seinen Restcharme durch grobschlächtige Natursteinplattierung eingebüßt hat. Dieses "Wahrzeichen" ist nach der Umnutzung und der Renovierung keines mehr, zumindest nicht für die Universität.

Und auch das Institutsgebäude, das aus dem ehemaligen Universitätshauptgebäude hervorgehen soll, ein ehemaliger Schinkel-Bau, hat in Zukunft keinerlei repräsentative Funktionen zu erfüllen und darf getrost als einfaches städtisches Haus in Erscheinung treten.

Zu guter Letzt, und das ist für ein zeitgenössisches Architekturverständnis von Belang, geht es um die "gestalterische Phantasie", die mir ein Kritiker abspricht, weil mein vorgeschlagener Turm meinen Hochhäusern am Potsdamer Platz und in Frankfurt am Main verwandt ist. Die schönsten Orte der schönsten Städte dieser Welt zeichnen sich durch ein Höchstmaß an Konvention aus, wobei alle Phantasie auf die Charakterisierung im Detail, auf die Ornamentierung gerichtet war. Diesen subtilen Abweichungen von der Norm kann und will sich der medial konditionierte Zeitgenosse nicht mehr aussetzen, er verlangt nach härteren Drogen, nach Riesenornamenten, nach ganz eindeutigen, "unverwechselbaren" Produkten einer zeitgenössischen gestalterischen "Phantasie", die über Nacht, wie wir wissen, im Strom des Immergleichen weggetragen werden.

Den Unterschied wahrzunehmen bedarf es aber der Bereitschaft zum zweiten Blick. Natürlich sehen in ganz Europa etwa die städtischen Wohnhäuser fast alle gleich aus - und auf den ersten Blick meist banal. Wer aber bereit ist, genauer hinzuschauen, oder wer sogar die Sehnsucht verspürt, jenseits der heftigsten Sinnesreize die nuancierten Eigenarten der Oberflächen und Konturen auszukosten, die ein Wohnhaus in Barcelona von einem in London oder Zürich unterscheidet, bei gleichem Grund- und Aufrisstypus, bei gleicher Geschossigkeit und Dachform, den beschleicht vielleicht eine Ahnung, was die Menschen in dem, was unser Berufsstand ihnen liefert, so schmerzlich vermissen . Wir sind in unserer Kunstbesessenheit weder zu einer Konvention bereit, die sich aus den Orten ableitet, die wir verändern, noch kümmern uns die Sehnsüchte der Menschen, für die wir bauen. Und wir sind auch nicht bescheiden und geduldig genug, die Oberfläche der Häuser als Entwurfsaufgabe ernst zu nehmen, durch Charakterisierung und Stilisierung im Detail.

Deshalb und nur deshalb werden wir in ramponierten Städten mit einer bürgerlichen Form des Widerstandes konfrontiert, die mancher Kritiker dann "Rekonstruktionsmanie" nennt. Vielleicht sollte jeder junge Architekt, der die Hochschule verlässt, erst einmal ein gutes altes Gebäude wiederaufbauen oder wenigstens eines renovieren, bevor er auf die Gesellschaft losgelassen wird.

Der Geist, dem die Leipziger Sprengung zu verdanken ist, dieser alte utopistische Geist, der recht eigentlich ein moderner und nicht auf die ehemalige DDR beschränkt war, hat in all seinen Facetten auch die jüngste Juryentscheidung zur Paulinerkirche nicht unwesentlich geprägt. Sollte man sich nicht verneigen dürfen vor einer Zeit, die nicht die eigene ist - und das nicht einmal aus Verehrung der künstlerischen Potenz ihrer Protagonisten, sondern vielmehr wegen der überwältigenden Kraft und atemberaubenden Verfeinerung aus Konvention? Und wenn uns das mit Einzelleistungen nicht gelingt, nicht gelingen kann, ist dann im Verlustfall nicht der Wiederaufbau die letzte, noble Konsequenz?

Artikel erschienen am 27. Feb 2004