Ein Jurassic Parc des Barocks

Dresdens Traum von einem neu-alten Stadtzentrum

Während die Berliner um die Rekonstruktion des Schlosses streiten, baut man in Dresden bereits an der Barockstadt aus der Retorte. Im Schatten der im Wiederaufbau befindlichen Frauenkirche soll der historische Neumarkt neu erstehen. Was für die Dresdner selbstverständlich scheint, weckt nicht nur in Architektenkreisen Unbehagen.

In der Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945 geschah das Unglaubliche: Zwei Staffeln britischer und amerikanischer Flugzeuge warfen ihre Bombenlast über Dresden ab und liessen Deutschlands schönste Stadt in Schutt und Asche sinken. Die Zerstörungen, die nicht zuletzt eine Vergeltung für Krieg und Völkermord waren, boten in den fünfziger Jahren dem DDR-Regime die Möglichkeit, ein neues, sozialistisches Dresden aufzubauen. Es liess die Trümmer bis auf die brandgeschwärzten Ruinen einiger Baudenkmäler abtragen und auf der leer geräumten «Ziegelsteppe» (Erich Kästner) Grosssiedlungen, von Zuckerbäckerbarock gesäumte Magistralen und zugige Plätze anlegen. Exakt zehn Jahre nach dem Feuersturm konnte am Altmarkt, der brutal zum Aufmarschfeld erweitert worden war, die wiederaufgebaute barocke Kreuzkirche geweiht werden. Danach ging man daran, die rund um den Schlossplatz gelegenen Ruinen zu rekonstruieren und so das Herz der Stadt allmählich in ein Freiluftmuseum mit isolierten Monumenten zu verwandeln. 1965 konnte der Zwinger, 1980 die barocke Hofkirche und 1985 die Semperoper wiedereröffnet werden. Sonst aber zeigte sich der historische Stadtkern an der Elbe als öde Leere, aus der nur die 1966 zum Mahnmal für den Frieden erkorenen Ruinen der Frauenkirche ragten.

Eine neue Gründerzeit

Nach der Wende war Dresden mit Oper, Sempergalerie und wiedererstehendem Elbpanorama für Investoren die attraktivste Stadt im neuen Osten. Das noch immer von Kriegsbrachen durchzogene Zentrum bot zudem Platz für Bauten in bester Lage. Wie Pilze schossen Kräne aus dem Boden, und plötzlich sahen sich die Dresdner mit schnell aufgezogenen Spekulationsbauten konfrontiert, die so gar nicht zu ihrem Traum von Elbflorenz passen wollen und die sie treffend Abschreibungsarchitektur nennen. Der Baurausch dieser Nachwende-Gründerzeit bedrohte anfangs sogar das städtebauliche Gesamtkunstwerk der in den sechziger Jahren geplanten Prager Strasse, wo das legendäre Rundkino bald schon von Steinklötzen umstellt vor sich hin dämmerte. Dafür entstand 1998 schräg gegenüber in einem toten Winkel zur St. Petersburger Strasse mit dem Ufa- Kinopalast von Coop Himmelblau eine der raren Vorzeigebauten der Nachwendezeit, deren aus dem Lot geratene Glasstürze von manchen Dresdnern als Metapher für die dritte Zerstörung ihrer Stadt (nach Krieg und DDR-Wiederaufbau) gelesen wird. Ihr könnte - zum Schrecken vieler Nostalgiker - bald schon ein zackiger Kristall von Libeskind in der barocken Neustadt folgen.

Während am Elbufer mit Peter Kulkas Sächsischem Landtag von 1993 und mehr noch mit der im vergangenen November anstelle der zerstörten Semper-Synagoge von Wandel, Hoefer, Lorch und Hirsch errichteten Synagoge (NZZ 12. 11. 01) zwei bedeutende Werke der neuen deutschen Architektur realisiert wurden, fiel der dritte zeitgenössische Eckpfeiler am Rand der einstigen Altstadt, das 1996 eröffnete World Trade Center, als nichtssagende Kommerzarchitektur aus. Kaum besser sind die zwischen seicht-postmoderner Anbiederung und Investorenmoderne changierenden Neubauten, mit denen bereits ein Teil des historischen Altmarktes auf seine einstigen Dimensionen zurückgebaut wurde. Noch aber harren die Baugevierte hinter der neubarocken Westfassade des Platzes, wo ein «Passagenviertel mit Weltstadtflair» entsteht, und seitlich der Kreuzkirche, die demnächst - wie früher einmal - nur noch übereck auf den Altmarkt ausstrahlen soll, der Realisation. Man kann nur hoffen, dass hier eine ähnlich dichte Atmosphäre entstehen wird wie zwischen der Kreuzkirche und dem in den sechziger Jahren rekonstruierten Gewandhaus, wo das Dresden der DDR-Zeit bis heute seine stimmungsvollste und intimste Seite zeigt.

Immerhin scheint man diese Qualitäten allmählich zu erkennen und beginnt nun mit der Restaurierung der Arkadenhäuser an der Wilsdruffer Strasse, der einstigen Prachtsmeile, die den 1969 in modernen Formen errichteten Kulturpalast vom Altmarkt trennt. Dieser wichtige, aber vernachlässigte Bau am Eingang zur teilweise noch von Ruinen gesäumten Schlossstrasse soll erhalten bleiben, doch die repräsentativen Nachbarbauten bis hin zum wiederaufgebauten und nun als Stadtmuseum dienenden Landhaus von 1776 sind durch die geplante Rekonstruktion des barocken Neumarktes in Gefahr, soll sich das einstige Quartier doch nach dem Willen der Gesellschaft Historischer Neumarkt Dresden (GHND) wieder bis an die Wilsdruffer Strasse erstrecken.

Wiederaufbau des Neumarktes

Dieser unreflektierte Wiederaufbauwille scheint gut zur gegenwärtigen Opferdiskussion zu passen, doch ist er nicht neu: Schon 1968 wurde eine trapezförmige Umbauung der zwei Jahre zuvor zum Mahnmal für den Frieden erklärten Ruine der Frauenkirche diskutiert, von der aber nur die grobschlächtige Erweiterung des Polizeipräsidiums realisiert wurde. Ein von der TU-Dresden 1981 initiierter Ideenwettbewerb führte zu einem Planungsmodell, das die Wahrung des historischen Platzgefüges und die Rekonstruktion von sieben bis zehn «kulturhistorisch besonders wertvollen» Gebäuden, sogenannten Leitbauten, vorschlug. Die nach der Wende erarbeitete Gestaltungssatzung von 1995 sah dann einen Wiederaufbau mit zeitgenössischer Architektur unter Berücksichtigung der kleinteiligen Parzellenstruktur sowie mit einigen barocken Leitbauten vor. Nun aber fordert die 1999 gegründete GHND eine «weitgehende» Rekonstruktion des Neumarktviertels, um der Frauenkirche - deren mittlerweileauf 400 Millionen Franken veranschlagter «archäologischer» Wiederaufbau seit 1993 im Gange ist und rechtzeitig zur Achthundertjahrfeier der Stadt im Jahre 2006 abgeschlossen sein soll - einen würdigen Rahmen zu geben.

Noch ist die 1743 vollendete Frauenkirche von George Bähr, der einst wohl schönste protestantische Sakralbau des Barocks, eine gigantische Baustelle, zu deren Füssen sich ein riesiges Lapidarium mit zur Wiederverwendung bestimmten Trümmersteinen ausdehnt. Hier überrascht seit letztem Mai ein formal ganz zeitgemässer Pavillon, in dem die GHND in einer attraktiven Schaumit Zeichnungen und Modellen alle Register zugunsten des Neumarktwiederaufbaus zieht. DieInitianten möchten rund 25 Leitbauten sowie weitere 50 wertvolle Häuser auf Grund erhaltener Dokumente «wissenschaftlich rekonstruieren» und von den restlichen Bauten zumindest die Fassaden wiederherstellen. Einen Eindruck davon, wie ein solcher Wiederaufbau aussehen dürfte, gibt schon jetzt das hinter der Frauenkirche nach alten Plänen und Abbildungen geklonte Cosel- Palais. Der von Walter Kaplan von KMSP am Computer generierte Bau wirkt in seiner spröden, der handwerklichen Baukunst des Barocks so völlig widersprechenden Perfektion fast surreal.

Problematische Rekonstruktionen

Die kostspielige Cosel-Kopie erkauften sich die Dresdner mit der Einwilligung, dass der Investor hinter dem Palais einen banalen Neubau desselben Architekten mit türkisfarbener Rasterfassade errichten durfte. Kein Wunder, dass angesichts dieses Allerweltsbaus die ursprüngliche Absicht der Stadt, neben rund 20 rekonstruierten Leitbauten zeitgenössische Architektur mit Anklängen an die historischen Fassadengliederungen, Dachformen und Traufhöhen zu errichten, auf immer breitere Ablehnung stösst. Zumal die im Dezember 2000 im Rahmen des «Ateliers Neumarkt» von Grössen wie Kleihues, Kollhoff, Mäckler oder Schultes unterbreiteten Neubauvorschläge kaum glücklicher stimmten als das bisher Realisierte. Verglichen damit erscheint der weisse Bandwurm, den Heinz Tesar auf einem schwierigen Grundstück zwischen dem 1995 als Kempinski-Hotel wiederaufgebauten Taschenberg-Palais und dem Zwinger hinstellte, fast schon geglückt. Allerdings besteht seine ungewollte Hauptaufgabe darin, den Rekonstruktionen einen Hauch von Alter und Authentizität zu verleihen.

Auch wenn die Skepsis gegenüber dem heutigen Bauen gross ist, so ist ein Wiederaufbau ex nihilo aus historischer, moralischer, aber auch aus denkmalpflegerischer und architektonischer Sicht nicht unproblematisch. Das zeigt sich am Beispiel der 1840 am östlichen Rand der Brühlschen Terrasse errichteten Semper-Synagoge, die - obwohl architekturhistorisch eine der bedeutendsten Bauten Dresdens - von der jüdischen Gemeinde nicht rekonstruiert wurde, weil dadurch die geschichtlichen Tatsachen verunklärt worden wären.

Nun aber wächst die Gefahr, dass die technisch immer einfacher werdende Wiederherstellung längst verlorener Bauten Dresden in einen architektonischen Jurassic Parc mit barocken Dinosauriern verwandeln wird. Damit stellt sich erstmalsmit aller Deutlichkeit die in der hoch technologisierten Welt des 21. Jahrhunderts immer akuter werdende Frage nach der Verfügbarkeit zerstörter Architekturen. Doch vorerst könnte in Dresden der Traum von einem neu-alten Neumarkt an finanziellen Hürden scheitern, wie ein Blick auf die am Ostrand der Altstadt unmittelbar neben der neuen Synagoge gelegenen Überbleibsel des 1729 von Johann Christoph Knöffel errichteten Kurländer-Palais zeigt. Diese wohl kostbarste Ruine der Stadt und die letzte im Neumarktviertel konnte bisher nicht wieder hergerichtet werden, weil ein selbstloser Financier, aber auch eine adäquate Nutzung fehlten. Doch nun sind sie gefunden und das Palais soll, wie vor wenigenTagen bekannt wurde, in alter Pracht wiedererstehen.

Roman Hollenstein

Unter www.neumarkt-dresden.de findet man Informationen zur geplanten Rekonstruktion des Dresdner Neumarkts.


NZZ vom 01. März 2002