Wolfgang Kil
Nach all den Trümmerjahren endlich Weltstadtflair

Mit der Prager Straße steht in Dresden ein Juwel der Nachkriegsmoderne auf dem Spiel

(Erschienen unter dem Titel „700 Meter Sehnsucht“ in der Süddeutschen Zeitung vom 30. Oktober 2003, mit freundlicher Genehmigung des Autors)


Noch vor nicht allzu langer Zeit wurde jeder, der aus dem Dresdener Hauptbahnhof trat, mit einer unvergesslichen Geste begrüßt. Nicht, dass die Blumen schwingende Frau am Giebel des Gaststättenwürfels „Bastei“ einer Kunstmetropole sonderlich zur Ehre gereicht hätte. Aber nun, da sie hinter einem trostlosen Neubau verschwunden ist, fehlt einfach was. Sie war das sympathische bisschen „Zuviel“ an dem grandios inszenierten Entree, dass sich die Elbestadt beinahe vierzig Jahre lang geleistet hat: Hohe Häuser, bunte Reklamen, sprudelnde Wasserkünste. Willkommen in der Neuen Zeit!

Mit 700 Metern Länge und 80 Metern Breite war die Prager Straße einer der verschwenderischsten Stadträume in der DDR: Am Eingang das 15geschossige Luxushotel, dahinter zwölfgeschossig ein superlanges Appartementhaus, kammartig gegenüber drei Touristenhotels, alles verbunden durch doppelgeschossige Ladenzonen, der große Innenraum mit Pavillons möbliert. Anders als in normalen Einkaufsstraßen blieb hier ausreichend Spielfläche für urbanen Müßiggang. Selbst um die neuerdings trockengelegten Brunnen sitzen an schönen Tagen Sonnensucher, treiben sich Selbstdarsteller, Händler und Musikanten zwischen den Passanten herum.

Damals, nach dem Wettbewerb 1963, war diese frei komponierte Stadtfigur von Peter Sniegon ein Fanal. Sie bedeutete das Ende jener muffigen „Nationalen Traditionen“, deren biedere Stilistik seit dem Krieg alles Baugeschehen beherrscht hatte – besonders prominent am Altmarkt, dem ein Kulturhochhaus nach Warschauer Manier gerade noch erspart geblieben war. Nun wurde alles aufgefahren, was bis eben als „kosmopolitische Dekadenz“ in schlimmstem Verruf gestanden hatte: Geradlinige Kuben, himmelan aufstrebend und rhythmisch gruppiert, mit Fassaden, die statt Lochfenstern die Raster serieller Montagetechnologie zeigten. Enorme Glasflächen suggerierten an den Pavillons fließende Übergänge zwischen Innen und Außen, sie feierten ein vollkommen neues Raumgefühl. Ungeniert hatte man sich von den Helden des International Style inspirieren lassen, von Franzosen und Holländern im Städtebau, von Südamerikanern und Schweden in der Architektur. Um womöglich alle noch zu übertreffen, denn in einer Frage war man denen voraus – in der freien Verfügbarkeit des Bodens. Luxuriös komplettiert mit aufwändigen Wasserspielen, Pergolen und „Stadtgärten“ bei den Hotels, entstand eine Gebäudelandschaft wie aus Ernst Blochs Geist der Utopie. Solche klaren, luftigen und bei Nacht strahlenden Bauten waren stark genug, ihre Benutzer in das Lebensgefühl jener Zeit mitzureißen: Zukunft ist machbar!

War das Stadtkunstwerk zum Bahnhof hin komplett vollendet, so blieb es in Richtung Altmarkt Fragment. Das als Gelenkpunkt gedachte Rundkino blieb ein Ufo, gestrandet an endlosen Wiesen. Weil das dahinter geplante Hochhaus nie über seine Fundamente hinausgelangt war, stieß die lange Hausscheibe ziellos ins Leere. Mitte der Achtzigerjahre begann man dort, in „Platte“ gegen die Solitäre der Moderne anzubauen. Schon in der späten DDR also sollten im Hinterland wieder „Altstadtgassen“ herbeizitiert werden. Nach 1990 wurde die stadtästhetische Kritik dann noch politisch aufgeladen und mündete tatsächlich in Rufen nach Abriss des gesamten Ensembles. Was die Aufbaugeneration sich nach zwanzig Trümmerjahren voller Sehnsucht gegönnt hatte – Endlich ein bisschen Weltstadtflair! – galt plötzlich als „totalitär“.

Zur Abkühlung der erhitzten Gemüter bot 1992 ein Wettbewerb folgenden Kompromiss: Weiterbau Richtung Altstadt, allerdings in den neuen Partien auf das historische Profil der alten Prager Straße eingeengt. Nachdem so mit einigen Kaufhäusern der offene Durchblick zum Altmarkt alsbald verstellt war, wurde auch die Torsituation zum Bahnhof durch einen unsensiblen Neubau verstopft. Da endlich merkten die Planungsverantwortlichen, dass auch die großzügigste Raumkomposition der Moderne sich nicht grenzenlos strapazieren lässt. Also tauften sie den Rest der verstümmelten Fußgängerachse um: Aus Prager Straße wurde „Prager Platz“.

Seit langem gehört die Stadtreparatur Dresdens zu den wichtigeren Themen neudeutscher urbanistischer Debatten. Allerdings lag das Hauptgewicht der Probleme bisher eher im historischen Umfeld. Schon über zehn Jahre hält die Frauenkirche das deutsche Feuilleton auf Trab – erst mit dem Streit um den Wiederaufbau, inzwischen als prominentes Fallbeispiel, wie sich Denkmalpflege mit Argumenten der Eventkultur unter Druck setzen lässt: Weil die Kirchenreplik zur nationalen Erfolgsgeschichte wurde, kostet es jetzt endlose Mühen, Stadtbildnostalgikern die originalgetreue Rekonstruktion des gesamten Neumarktviertels auszureden. Selbst die unsäglich kitschige Überformung, mit der Hans Kollhoff dem markanten Kulturpalast aus den Sechzigern den Garaus machen will, würde sich noch im touristischen Dunstkreis zwischen Kreuzkirche und Semperoper abspielen.

Im Vergleich dazu war das überörtliche Interesse am Schicksal der Prager Straße eher gering. Vielleicht, weil die hier infrage stehende Architektur noch nicht ganz so viele Freunde zu mobilisieren vermag. Doch jetzt scheint Gefahr im Verzug. Die kommunale WOBA NordWest, Eigentümerin des Appartementhauses, denkt über einen Abriss des langen Riegels zugunsten eines neuen Bürogebäudes nach. Nun geht das Planungsamt, unterstützt von der Akademie der Künste, mit einem internationalen Symposium an die Öffentlichkeit. Denn offenbar läuft alles auf einen Wettlauf mit der Zeit hinaus. Wie stets, steht auch heute wieder die jüngst zurückliegende Bauperiode am meisten in Gefahr, bis zur Unkenntlichkeit „korrigiert“ oder durch bedenkenlose Abrisse dezimiert zu werden. Während eine nachwachsende Generation die „Coolness“ und abstrakte Emphase des modernistischen Designs gerade für sich entdeckt und dessen vernachlässigte Räume voller Enthusiasmus neu besetzt, kämpft die entscheidungsbefugte Garde der Modernekritiker, die vor dreißig Jahren antrat, die angeblich „totalitären Träume“ zu entzaubern, verbissen für das Credo ihrer Berufsbiographie: „Nieder mit den seelenlosen Kisten!“

Doch aus allen notwendigen Auseinandersetzungen gehen die Highlights der Moderne zunehmend gesichert hervor. Bereits 1987 hatte die UNESCO die Reißbrettmetropole Brasilia zum Weltkulturerbe erklärt. 2000 kamen die Universitätsstadt von Caracas, Rietvelds Schroederhuis in Utrecht, die „Zeche Zollverein“ in Essen sowie die Bauhaus-Bauten von Weimar und Dessau auf die Liste. Als sich vor Jahren herumsprach, dass man in Rotterdam die Lijnbaan, die Urform und deshalb berühmteste aller Fußgängerzonen Europas, neuen Shoppingbedürfnissen anzupassen gedachte, inspizierte eine weltweit alarmierte Architektengemeinde argwöhnisch das Vorhaben auf seine baukulturelle Verträglichkeit.

Die sächsische Denkmalpflege hat in Sachen moderner DDR-Planungen durchaus Gespür und Stehvermögen bewiesen ... leider nur in Chemnitz, wo seit Anfang der 90er Jahre die Straße der Nationen unter Ensembleschutz steht. Offenbar war im barockseligen „Elbflorenz“ der Gegenwind allzeit stärker. Dabei hat Dresden mit seiner Prager Straße zur Weltkultur der Nachkriegsmoderne genauso viel international Überragendes zu bieten wie mit Zwinger und Frauenkirche zur Weltkultur des Barocks. Leider dürfte es nach der jetzt angedrohten endgültigen Zerstörung aussichtslos sein, für eine Rekonstruktion dieses Kulturmonuments noch einmal Sponsoren zu finden.