Vorschlag
für die Rekonstruktion des historischen Viertels um die Frauenkirche
in Dresden - von Prof. Oswin Hempel
Im
Dresdner Stadtkern nimmt der Bezirk, der sich um die Frauenkirche gruppiert,
eine besondere Stellung ein. Ursprünglich außerhalb der Stadtumwallung
liegend, war der Neumarkt als Frauenvorstadt mit einer kleinen Kirche
für die umliegenden Dörfer bestanden.
Bei der Vergrößerung der zu eng gewordenen Stadt und mit
dem Hinausschieben des Befestigungsgürtels wurde der Neumarkt angelegt
und diente als Marktplatz der Stadt, umstanden von Wohnhäusern,
besonders der Hanwerker. Mit dem Neubau der Frauenkirche in der Barockzeit
wurde sie - nach heftigen inneren Kämpfen - die geistliche Zentrale
des Bürgertums. Auch Adelspaläste siedelten sich hier an.
Der bauliche Zustand war bis vor dem zweiten Weltkrieg baulich im wesentlichen
derselbe geblieben, der barocke Charakter Dresdens war hier am einheitlichsten
erhalten.
Die Grundform des Neumarktes hatte sich ohne feste Planung entwickelt
und ist unregelmäßig entstanden. Semper hatte zu seiner Zeit
der Südfront eine gewisse Vereinfachung gegeben. Der Reiz des Platzes
lag weniger in der Geschlossenheit der Raumform, mehr in der Einheitlichkeit
der meist barocken Fronten. Er war Wohngebiet geblieben, wodurch die
monumentale großförmige Wirkung der Frauenkirche zu überwältigender
Erscheinung kam. Nachdem die Märkte von den Plätzen in die
Markhallen verlegt wurden, war er leer, hatte nur einen mittleren Durchgangsverkehr
und war auch wirtschaftlich im Laufe der letzten Jahrzehnte wesentlich
zurückgegangen. Es ist ein wichtiges Problem, diese Mängel
zu beheben und dem Stadtteil bei der Neugestaltung Möglichkeiten
neuer Entwicklung zu geben.
Die grauenvolle Zerstörung
Am 13. Februar 1945 ist das ganze Gebiet zerstört worden, jetzt
vollständig enttrümmert und leer; nur die restlichen Stümpfe
der Frauenkirche stehen inmitten eines gigantischen Trümmer-
berges von teils zyklopischen Blöcken.
Umstanden wird die Planfläche im Norden von der um etwas 5 m höheren
Brühlschen Terrasse - darauf das ehemalige barocke schmale Sekundogenitur-Gebäude,
künftige Galerie-, von den Baumassen der Rückfront der Akademie
und des Albertinums, Bauten, die zwar ausgebrannt sind, aber zum Teil
wiederhergestellt wurden. Die Westfront wird von dem ausgezeichneten
Renaissancegebäude des Johanneums, dem Historischen Museum, abgeschlossen.
Daneben die Rückfront des ehemaligen Ständehauses. Im Osten
wird der Bauplatz von den 25 m hohen Brandmauern des größten
Teils erhaltenen Polizeipräsidiums begrenzt. Im Süden stößt
er an die Rückfronten der im Aufbau begriffenen Ost-West-Magistrale.
Verkehrstechnisch wird künftig ein mittlerer Wagenverkehr vom Pirnaischen
Platz durch die Landhausstraße zur Dimitroffbrücke führen,
im ganzen möchte dem Viertel mehr der Charakter einer stilleren
Wohninsel neben dem verkehrsreichen Hauptstraßen verbleiben.
Denkmalpflegerische Aufgaben
Folgende Aufgaben liegen hier vor:
Abdeckung der wertlosen Rückfronten der
umgebenden Großbauten;
die Ost-West-Magistrale und den zentralen Platz
mit dem Neumarkt in geeigneter Form zu
verbinden;
die wertvollen Bauwerke des Johanneums und des
Stallhofes einzubinden und wieder aufzu-
bauen;
den erhalten gebliebenen, sehr reizvollen Vorhof
des Cosel-Palais, das selbst zerstört ist, in
die neue Platzfront an der Frauenkirche einzugliedern;
die beschädigte Baugruppe des Kopfes der
Rampischen Straße, die einzige erhalten-
gebliebene Dresdner barocke Wohnhausgruppe, wieder
im denkmalpflegerischen Sinne auf-
zubauen und den benachbarten neuen Hausfronten
der Straße eine entsprechende Form zu
geben.
Das Hauptproblem bildet die Wiedererrichtung der Frauenkirche, die die
architektonische Dominante des Stadtteils ist und nach jeder Seite hin
die Straßenbilder beherrscht. Da die Kuppel der Frauenkirche in
der Stadtsilhouette von allgemein anerkannter höchster Wirkung
ist, sollte ihr Wiederaufbau an der gleichen Örtlichkeit erfolgen.
Die Grundmauern sind erhalten und tragfähig, die Sicherung durch
einen Stahlbetonkern der inneren Pfeiler und der Kuppel durch Stahlbetonringe
nach bereits vorhandenem Entwurfe geben die statischen Grundlage für
ihre Sicherheit, die ihr Erbauer George Bähr in seinem kühnen
Plan zu seiner Zeit nur teilweise erkennen konnte. Die Renovationen
der Kirche und die dabei vorgenommenen Sicherungsmaß-
nahmen in den letzten Jahrzehnten haben genaue Detailaufnahmen hinterlassen,
so daß die Dimension jedes Baugliedes und fast jedes Steines bekannt
ist, die teilweise nummeriert bereit-
liegen. Die Aufbaumöglichkeit in getreuer Wiederholung ist also
gegeben. Ihre Durchführung erfordert als Architekten eine Dirigentenpersönlichkeit,
welche nach der gegebenen Partitur sie wieder zum Leben erwecken kann,
wie ein Bachsches Ovatorium, dem die Frauenkirche im Geiste verwandt
ist. Und weil die Frauenkirche eines der originellsten und bedeutendsten
historischen Großbauwerke und zugleich auch das wichtigste Baudenkmal
des protestantischen Kirchenbaus ist, das die monumentalste und ausdrucksvollste
Form eines evangelischen Sakral-
gebäudes darstellt, ist ihr Wiederaufbau als berühmtes nationales
Wahrzeichen eine zwingende Notwendigkeit und eine der größten
Hoffnungen.
Nicht minder wichtig ist der Wiederaufbau des Johanneums am Jüdenhof
in geeigneter Form als das einzig erhaltene Renaissancegebäude
der Stadt mit einer barocken Freitreppe, ferner auch der Wiederaufbau
des sich anschließenden malerischen Renaissance-Stallhofes, beides
im denkmalpflegerischen Sinne. Mit dem raschen Fortschreiten des Aufbaus
der West-Magistrale gilt es nun auch über das Schicksal und die
Form des östlich angrenzenden Stadtteils um die Frauenkirche Klarheit
zu schaffen. Die Erfolge des Wiederaufbaus in Warschau und anderen Städten
Volkspolens, wo neben den bedeutendsten Objekten ihrer nationalen Baukultur
auch ganze Straßenzüge alter Wohnbauten in denkmalpflegerischem
Sinne wiederhergestellt werden, sind auch für uns von Bedeutung
und rücken die Fragen des Wiederaufbaus des Frauenkirchen-
viertels im Sinne des überlieferten barocken Stadtkerns in unseren
Gesichtskreis.
Dresden 1956, Blick von der Salzgasse auf die Reste der
Coselpalais-Torhäuser, Frauenkirchen-Ruine und die neuen Wohnhäuser
am Altmarkt / "Ost-West-Magistrale" Wilsdruffer Straße
Einige neue Gesichtspunkte
Ein sehr wichtiges Problem für diesen Wiederaufbau ist, ihm ein
gewisses wirtschaftliches und gesellschaftliches Leben zu sichern, das
ihn über das reine Wohnviertel hinaushebt, durch ent-
sprechendes Einfügen von Gemeinschaftshäusern, mittleren Hotels,
Gaststätten und Läden und durch kleinere Handwerksbetriebe
mit Läden u.a., und ihn dadurch mit pulsierendem Leben zu erfüllen.
Er wird auch in geistiger Beziehung eine Bereicherung und Ergänzung
darstellen im Rahmen der repräsentativen zentralen Anlagen, da
in seinem Bereiche fast alle Gebäude liegen, die den bildenden
Künsten dienen.
Verkehrstechnisch werden notwendig sein freie Durchfahrten vom Pirnaischen
Platz zur Dimitroff-
brücke, durch die Rampsiche Straße und Augustusstraße
zur Dimitroffbrücke, ferner leichte Zugangsmöglichkeiten vom
Zentralen Platz und von der Ost-West-Magistrale zur Brühlschen
Terrasse sowie eine direkte Querverbindung zum Brühlschen Garten
von der Ost-West-Magistrale aus, am Landhaus entlang über die Ramppische
Gasse und den Volksgarten.
Die südlich vom Albertinum angelegte breite Straße zur Südfront
der Akademie ist für den Verkehr ohne Wert und könnte als
solche aufgehoben werden. Die hier noch stehenden Ruinen der vor drei
Jahrzehnten erbauten Wohnhäuser sind zu beseitigen. Dadurch würde
eine große baumbestande Grünfläche hier entstehen können,
die den Gegensatz der monumentalen Gebäude der Akademie und des
Albertinum saus den 80er und 80er Jahren zu den kleinmaß-
stablichen älteren Wohnhäusern der Rampischen Straße
mildert. Diese Grünfläche würde als Volksgarten dem Plangebiet
dienen und mit dem um 4 m höher liegenden Brühlschen Garten
durch eine Treppenanlage verbunden sein. Das dort befindliche Belvedere
wäre in bescheidener Größe, etwa wie der ursprüngliche
Barockpavillon Brühls wieder zu errichten, jedenfalls aber nicht
als Massengaststätte, wozu andere Orte geeigneter sind.
Der Tradition folgend, wäre außer den Volkswohnungen auch
auf Handwerkerwohnungen mit kleineren Werkstätten und Läden,
die durch die Innenstadt angewiesen sind, Rücksicht zu nehmen.
Die Häuser, besonders um die Frauenkirche herum, an der Rampischen
Straße, waren meist drei- oder vierfenstrige Fronthäuser,
vier oder fünft Stock hoch und sehr reizvoll gestaltet; der Wiederaufbau
einer gewissen Zahl diesr kleineren individuell gestalteten Häuser
ist not-
wendig, und die sollten in die Straßenfronten eingefügt werden.
Selbst die geschickteste Front-
bildung der normierten Volkswohnhäuser heutiger Prägung kann
jene individuellen Häuser nicht ersetzen, ihnen aber eine gesteigerte
Wirkung verleihen. Die sogenannten Kettenhäuser sind auszuschließen.
Auch kleineren Ladengeschäften, die wertvolles Sondergut anbieten
an Volks-
kunst, Kunsthandwerk, bildender Kunst, würde das Gebiet des Neumarktes
wirtschaftliche Ent-
wicklungsmöglichkeiten bieten.
Wiederaufbaufähige Ruinen auf der Rampische Straße
und Salzgasse 1946
Das alles zu erkennen, ist notwendig, um dem Stadtteil einen seinem
historischen Charakter entsprechenden gesellschaftlichen, geschäftlichen
und geistigen Charakter zu geben und die ihm eigenen unterschiedlichen
Ausdrucksformen zu schaffen.
Können wir den alten Stil erreichen?
Die barocke Bautechnik war eine rein handwerkliche und mehr gefühlsmäßige,
deren künstlerische Wirkung wir heute nur in begrenzter Form erreichen
können. Eine historisch getreue Nachbildung der alten Hausfronten
wird erschwert dadurch, daß die radikale Schuttbe-
räumung alle schmückenden Einzelheiten zerstört hat.
Übrig geblien und in Verwahrung genommen sind nur einige Portale,
Teile einst schöner Erker, Schlußsteine und eiserne Gitter,
die einzubauen wären, und einige sorgfältig zeichnerische
Detailaufnahmen, die als Anregung dienen können.
Das bei einem Gesellschaftshaus oder Hotelbau oder bei einer Gaststätte
eine festliche barocke Gestaltung leichter möglich ist, ist ein
Positivum. Die prachtvollen hochbarocken Einzelbauten, wie das British
Hotel und das Hotel de Saxe von George Bähr, ferner das Haus Dinglingers,
des berühmten Goldschmiedes, von Pöppelmann, das Harmonie-Gebäude,
ehemals Gleimes Palais mit den zwei schönen Höfen und dem
Semper-Saal und andere getreu wieder aufzubauen, erscheint kaum möglich
wegen der unnachahmlichen Beschwingtheit im Flächenrhythmus und
in den Proportionen und dem üppigen ornamentalen Reichtum. Es fehlen
hierzu außer einfachen Aufnahmezeichnungen und Fotos die notwendigen
Grundlagen.
Wesentlich ist, daß das auf historische kleinere Maßstäbe
abgestimmte Gebiet des Neumarktes die monumentalen Fronten der Ost-West-Magistrale
nicht beeinträchtigen und durch herabgezogene Übergänge
und Durchgänge abgeschirmt wird. Soweit Baulichkeiten jenes Maßstabes
angrenzen, wie am Jüdenhof, muß die maßstäbliche
Form des Neumarktes beachtet werden.
Durch Einfühlung in die traditionelle Dresdner Bauformen mit ihrer
zurückhaltenden Noblesse, duch Einfügung vorherrschend handwerklich
durchgeführter Sonderbauten, durch Beschränkung der rationalisierten
Formen, soweit die in äußere Erscheinung treten, durch leichte
farbige Behandlung der Straßenzüge auf glatten Putz u.a.
wäre die Erreichung eines Stadtbildes möglich, das dem alten
nahesteht.
Neue Pläne
Das eigentlich Unsymmetrische in der Planung, das Fehlen aller Achsenbildungen,
das nach und nach Gewordene in der Gruppierung der Baukörper gibt
dem Stadtteil den besonderen Charakter durch die gleitenden Fronten
der Straßen und Plätze und durch die sich ergebende wechselnde
Verschiebung der Baukörper. Inmitten dieser ruhigen horizontalen
Bewegung steht die Frauen-
kirche, leidenschaftlich aufstrebend als beherrschende Dominante. Die
umgebenden Wohnhausfronten geben den Maßstab zu ihrer außerordentlichen
Größenerscheinung. In sechs radial ihr zustrebenden Straßen
ist sie wirksam einbezogen in den ganzen Stadtteil und die an-
grenzenden Gebiete.
Am Neumarkt ist ihr ein niedriges Bauwerk vorgelegt, das dem Platze
die räumliche Geschlossenheit gibt. Eine ähnliche Anordnung
war in dem Standard-Gebäude (die Wache) der Barockzeit vorhanden,
das im Siebenjährigen Kriege zerstört und nicht wieder aufgebaut
wurde. Hier könnte ein Kaffee eingerichtet werden. Der Neumarkt
selbst ist gegen früher soweit verkleinert worden, wie es die Wirkung
der Kirche erfordert und um den Eindruck einer Platzleere zu vermeiden.
Eine ansprechende Erweiterung erhält er durch den Jüdenhof
mit der Hauptfront des Johanneums. Hier fehlt noch der westliche Abschlusskörper,
der sich entsprechend einpassen muß. In seinem südlichen
Raumteil sollte ein größeres Gesellschaftshaus mit Saal und
in die westliche Raumfront ein mittleres Hotel eingefügt werden.
Der Platz wird wie früher 5 1/2 Stock hohe Bebauung erhalten, die
Straßen vier Stock und der Hof gegen die Augustusstraße
3 Stock. Die neuen Straßen sind wesentlich breiter als die früheren,
um das alte räumliche Verhältnis von Straße zu Platz
zu erhalten. In der Straßen-
führung ist die lineare Gradlinigkeit möglichst vermieden
worden; das entspricht der alten Dresdner Plangestaltung und trägt
wesentlich dazu bei, dem Straßenbilde den beschwingten Rhytmus,
das lebendige Fließende und die räumliche Erscheinung zu
geben. Das brachtvolle Kopfbild der Rampischen Straße gegen dei
Frauenkirche bringt das sprechend zum Ausdruck.
Gegen die Terrasse fällt das Gelände etwa 3 1/2 m ab; von
großen Hochwässern wurde es über-
flutet, eine Auffüllung von 2 bis 3 m ist notwendig. Eine Durchfahrt
vom Plangebiet zur Elbe unter der Terrasse am Ständehaus würde
ausreichen, um den anderen Durchlaß an der Kunstakademie nur als
Durchgang mit Stufen auszubilden. Hier einen größeren Wohnhausblock
aufzubauen, ist nicht zu empfehlen. Dagegen könnte aber hier ein
Institut für alle Sparten des Kunsthandwerks errichtet werden.
Dresden braucht für die weitere Entwicklung seines Kunst-
gewerbes, das besonder die innere und äußere Ausgestaltung
betrifft, wieder eine Zusammen-
fassung in Versuchs- und Lehrwerkstätten, damit die Tradition der
Kunststadt nicht verloren geht.
Kunstakademie 1946
Die Großbauten, die der Kunst dienen, bilden einen Halbkreis als
nördliche und westliche Begrenzung des Plangebietes. Durch Wege
und Durchgänge sind sie in enger Verbindung gebracht, wodurch der
ausschießliche Verkehr über die Terrasse wegfällt. Nach
den bekannt-
gegebenen Plänen des Ministeriums für Kultur ist im nächsten
Fünfjahrplan der Wiederauf- und Erweiterungsbau der Akademie und
des Kunstausstellungsgebäudes vorgesehen. Damit wäre auch
die Erneuerung der an das Plangebiet angrenzenden Südfronten dieser
Baugruppe und ein besserer Zusammenklang mit den benachbarten Bauten
zu erwarten, und der Wunsch zu erfüllen, die übersteigerte
Monumentalität und den zweifelhaften Reichtum zu korrigieren und
zu beseitigen, auch die Silhouette zu vereinfachen und besonders den
Glaskuppelaufbau mit Kupferblech zu verkleiden.
Um diese vielseitigen und individuellen Gestaltungen durchführen
zu können, ist die Heranziehung mehrerer hierzu befähigter
Architekten notwendig.
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