Vom Trugbild eines historischen Neumarkts
aus: Sächsische Zeitung, 16./17.11.2002

von Thomas Will und Erika Schmidt

"Wollen Sie den historischen Neumarkt zurück?", fragt ein Verein die Dresdner. Sehr gerne, möchte wohl jeder antworten, denn wer liebt sie nicht, die schönen alten Städte? Doch die Erfüllung dieses Wunsches ist ganz und gar unmöglich. Was wir jetzt bauen, ist stets 21. Jahrhundert und wird für uns nie historisch sein in dem Sinne, wie es wirkliche Altstädte und Baudenkmale sind. Die Frage ist also falsch gestellt. Gerade das Historische, das uns hier leichtfertig versprochen wird, ist das, was weder mit Geld noch mit modernster Technik rückholbar ist, wenn es erst einmal verloren ist. Das haben viele Dresdner Bürger angesichts der Zerstörung ihrer Stadt schmerzhaft erkannt. Der Chronist Fritz Löffler hat auf diesen Verlust mit dem berühmten Buch über "Das alte Dresden" reagiert, nicht aber mit dem Ruf nach seiner möglichst umfassenden Wiederherstellung. Auch wir als Erben sollten nicht versuchen, sein liebevolles Beschreiben des Unersetzlichen umzumünzen in einseitiges Vorschreiben, wie es mit dem Geld fremder Investoren nun doch zu ersetzen wäre.
Wer ein ganzes Stadtquartier zurückträumt, so wie es einmal war oder noch schöner, folgt einer verständlichen Neigung, Verlorenes wiedergewinnen zu wollen; wer das aber zum Bauprogramm macht, noch dazu "wissenschaftlich" exakt und nicht in freier künstlerischer Einfühlung, zeigt wenig Respekt vor dem Geschichtlichen. Es ist dann nur ein weiteres "Produkt", das man glaubt, herstellen und kaufen zu können wie ein Stilmöbel. Die Befürworter des sogenannten "historischen" Wiederaufbaus des Dresdner Neumarkts wissen um diese Problematik, und deshalb ist die Frage bewußt irreführend gestellt: nämlich so, als sei die Unterscheidung zwischen historischem Original und historisierender Nachahmung nur etwas für Experten, der Bevölkerung aber nicht zuzumuten. Bei dem Bürgerbegehren geht es also nicht um wirklich Historisches, sondern um einen Vorschlag, Ersatz dafür zu schaffen.
Darin verbinden sich Abneigungen gegen die Kultur der Moderne - also auch gegen die von unseren Großeltern und Eltern aufgebaute Tradition - mit dem Wunsch, dieser Tradition zu entgehen und statt dessen Bilder einer Stadt des 18. Jahrhunderts nachzubauen. Das ist in Ausschnitten wohl möglich, das beschlossene Konzept einzelner wiederzuerrichtender Leitbauten geht in dieser Richtung schon sehr weit. Man mag das fördern. Aber generell fordern? Für ein ganzes Quartier, bei dem es doch eher um kleinteilige Urbanität geht als um die Inszenierung von Fassadenabwicklungen? Die Bauregeln des barocken Dresden waren da übrigens mehr auf der Höhe der Zeit, nicht rückwärtsgewandt, sondern offen für eine Architektur "à la mode".
Man könnte die aktuelle Aktion des Vereins also abtun als ein etwas wichtigtuerisches Plädoyer für einen gebildeten, an der Vergangenheit orientierten Geschmack, oder anerkennen als besorgten Ruf nach einer bauhistorischen Sittenpolizei für die gute Stube der Stadt. Leider haben Trugbilder wie die eines neu erstehenden "historischen" Neumarkts aber einen fatalen Nebeneffekt. Hinter dem Bemühen um den schönen Schein eines Quartiers, das möglichst aussehen soll, als wäre es immer so gewesen, als wäre dieses kostbare Erbe nicht in einem geschichtlich unerhörten Akt verspielt worden, tritt das Bewußtsein für die wirklichen Denkmale der Geschichte zurück. Wenn man sie mittels einer Gestaltsatzung einfach nachbauen kann – warum dann die altersschwachen Zeugen der Vergangenheit überhaupt pflegen und bewahren? Hier trennen sich die Wege derer, denen an der wahren Autorität des geschichtlichen Erbes liegt, das oft mühsam zu erhalten ist, und derer, die auf eine fiktive, schönere und dazu besser nutzbare Historie setzen: auf einen Neumarkt als Idealbild eines ver-meintlich goldenen Zeitalters (mit moderner Infrastruktur).
Dresden als eine an künstlerischem Erbe immens reiche Stadt hat es gar nicht nötig, in seinem monumentalen Zentrum auf oberflächliche Architekturreproduktionen zu setzen. Es tut gut daran, zuerst seine Originale zu pflegen, das vielseitige und bedeutende Erbe, das ja in weiten Teilen noch existiert, und ansonsten die schöpferische Auseinandersetzung mit den künstlerischen Traditionen zu fördern. Die Freunde Dresdens und Sachsens in aller Welt aber könnten sich die größten Verdienste erwerben, wenn sie ihre Begeisterung für die historische Stadtbaukunst wirklich dieser zuwenden – beispielsweise den charaktervollen alten Quartieren an den Rändern der Stadt oder der sensiblen Elblandschaft, oder auch den großartigen Altstädten von Meißen, Pirna, Grimma und anderen, die kürzlich in der Flut viel mehr gelitten haben als Dresden. Dort geht mangels Aufmerksamkeit und Finanzkraft an existierenden Altstadtquartieren weiter verloren, was man, gut gemeint aber weniger gut beraten, am Neumarkt als standortfördernde Imitate sich nachbauen will. Warum sich also nicht, anstatt für einen Bürgerentscheid, der die wahren Probleme ausklammert, für die historischen Stadtquartiere selbst entscheiden? Hier geht es nicht um geschmackvollen Ersatz, sondern um die Rettung von geschichtlichen und identitätsstiftenden Werten. Wenn wir auf diesem Feld erfolgreich sind, können wir am Neumarkt getrost etwas toleranter sein und das Werden moderner Stadtarchitektur kritisch-engagiert verfolgen, nicht anders als die Bürger des 18. Jahrhunderts, die mitwirkten, als der überlieferte Raum "nach der neuesten Art und Façon" umgeformt wurde. Wer aber etwas dafür tun will, daß uns die historische Stadt als Heimat und attraktiver Lebensraum erhalten bleibt, kann sich beispielsweise an die Deutsche Stiftung Denkmalschutz wenden, die in diesem Sinne bürgerschaftliches Engagement vertritt.

Thomas Will ist Architekt und Professor für Denkmalpflege und Entwerfen an der Fakultät Architektur, Erika Schmidt ist Professorin für Geschichte der Landschaftsarchitektur und Prodekanin der Fakultät Architektur der Technischen Universität Dresden