Zum
Beispiel: Dresdner Neumarkt -
Zur aktuellen Polemik und zum kulturphilosophischen Konzept
Von Hans Joachim Neidhardt
Die
öffentliche Diskussion um ein modernes Gewandhaus am Dresdner Neumarkt
berührt Grundsatzfragen. Zwar wird heute die historische Rekonstruktion
des geschichtsträchtigen Zentrums im Wesentlichen akzeptiert, doch.
meinen einige Architekten und Architekturkritiker, daß nun endlich auch
"unsere Zeit" zu Wort kommen solle. Ein moderner Kontrast zu all den
wiedererstandenen Bürgerhäusern aus der Barockzeit muß her, und sei
es ein quergelagerter Kubus direkt gegenüber der Frauenkirche. Mut zur
Provokation wird empfohlen.
Ist
aber solche Provokation an dieser Stelle überhaupt sinnvoll, und von
wem wird sie gewünscht? Wäre es nicht konsequenter, sich auf diesem
nun wirklich kleinen Areal ohne Wenn und Aber zur möglichst geschlossenen
Wiederherstellung eines Herzstücks vom alten Dresden zu bekennen. Ist
nicht eben hier ausnahmsweise einmal Bescheidenheit und Verzicht auf
"Kontrast" und "Provokation" die verantwortungsvollere, sensiblere,
ja auch die klügere Haltung?
Das schizophrene Sowohl als Auch der Stadtplanung macht aus dem Neumarkt,
um dessen angenäherte historische Identität sich Viele bemühen, ein
Zwitterwesen. Das Konzept der Rehabilitation des alten Stadtbildes darf
an diesem einzigen und einzigartigen Ort nicht in Frage gestellt werden.
Der wiederhergestellte Neumarkt ist ein weithin verstandenes Zeichen
gegen die voranschreitende kulturelle Globalisierung, die sich im Städtebau
als ästhetische Nivellierung äußert. Das empfohlene moderne Gewandhaus
ist gewiß ein interessantes, qualitätvolles Bauwerk. Doch es hat gestalterisch
keinen Dresdenbezug und könnte so überall in der Welt stehen. Hier ist
der Mut zum Verzicht höher zu bewerten, als ein fragwürdiger Mut zur
globalen Mode. Den modernen Kontrast zum historischen Neumarkt wünschen
wir uns am Postplatz.
Die Kritik an der fehlenden Moderne wie auch an mangelnder baulicher
Qualität greift meist zu kurz, weil ihr öfters eine verengte Problemwahrnehmung
zu Grunde liegt. Worum also geht es? Der Architekt Wolfgang Hänsch,
der verharmlosend von einem "seelischen Problem der Dresdner" spricht,
denkt zwar in die richtige Richtung, erkennt jedoch nicht die weit-
und tiefergreifende Relevanz der Sache, die in Dresden nur stellvertretend
ausgefochten wird, aber weit über den Einzelfall hinausgeht. Es ist
daher notwendig, die Frage nach dem Wozu und dem Wie der Neubebauung
des historischen Ortes vom Kopf auf die Füße zu stellen. Erst dann nämlich
wird die eigentliche Aufgabe am Neumarkt transparent, und die geriert
sich in erster Linie als ein soziales Problem mit durchaus philosophischem
Hintergrund, das sich inzwischen längst europaweit abzeichnet und welches
das Geschichts- und Kulturverständnis in einer sich rasant verändernden
Welt in bedrängender Weise betrifft.
Flucht aus der Geschichte
Die Frage nach Geist und Form des Wiederaufbaus unserer im Krieg 1939/45
zerstörten Städte stellte sich den Deutschen vehement in den 1950er
Jahren. Aus unterschiedlichen ideologischen Gründen wurde sie in Ost
wie West überwiegend mit einem Veto für das Neue Bauen entschieden,
was den Abriß der meist schwer beschädigten historischen Stadtzentren
implizierte. In diesem Zusammenhang spricht Theodor Adorno in seiner
Rede vom 6. November 1959 in Wiesbaden zum Thema: "Was bedeutet Aufarbeitung
der Vergangenheit" vom "schrumpfenden Bewußtsein historischer Kontinuität
in Deutschland, einem Symptom jener gesellschaftlichen Tendenz zur Schwächung
des Ichs," und von dem "Verdacht des Geschichtsverlustes". Diese deutsche
Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg deckt sich mit einer in den USA
gemachten Beobachtung von Geschichtsfremdheit der Amerikaner und mündet
in das Schreckbild einer Menschheit ohne Erinnerung. Adorno sieht in
ihr das Symptom einer unaufhaltsamen Entwicklung der kapitalistischen
Tausch-Gesellschaft, für die Geschichte bloß noch Ballast bedeute. Für
den Wertetausch, der etwas Zeitloses sei, entfalle die Dimension der
Zeit. Zeit und Erinnerung werden als unnützer, irrationaler Rest einer
überholten Gesellschaft liquidiert.
Für die Deutschen bedeutete 1945 die Löschung von Zeit und Erinnerung
auch entlastender Verzicht auf die angezeigte Aufarbeitung der Geschichte.
Dem entspricht beim Aufbau unserer Städte - jedenfalls in Westdeutschland
- die Flucht in die reine Funktionalität und Geschichtslosigkeit der
Moderne, die als Baustil erstmals in der abendländischen Baukultur jegliches
Anknüpfen an Traditionen verwirft. Heute hängt die erschreckende Uninteressiertheit
besonders der jüngeren Generation an Geschichte wohl auch mit der Verdrängung,
ja Verteufelung jeglicher Tradition durch die "Achtundsechzigerbewegung"
zusammen.
Verlust
an historischer Architektur als Phantomschmerz
Noch nie hat ein Krieg so umfangreiche Verluste an architektonischen
Flächendenkmälern verursacht, wie der Zweite Weltkrieg. Das "Ausradieren"
ganzer Städte, besonders aber ihrer historischen Zentren, zielte nicht
nur auf Demoralisierung der Bevölkerung, sondern zugleich auf ein Auslöschen
ihrer Geschichte, was einer Kastrierung ihres Selbstgefühls als politisch-ethnischer
Gemeinschaft gleich kam. Wie sich zeigt, schwindet das Bewußtsein des
erlittenen Verlustes spätestens in der Enkelgeneration. Mit der modernen
Überbauung historischer Stadträume verliert sich rasch die Erinnerung
an die alten Strukturen und damit an jene materiellen Zeitzeugen der
eigenen Geschichte und Kultur, von denen Hermann Hesse als "von einem
großen, edlen Gut" spricht, mit deren Zerstörung "die durch Bilder erziehende
Umwelt der künftigen Geschlechter und damit die Seelenwelt dieser Nachkommen
eines unersetzlichen Erziehungs- und Stärkungsmittels (...) beraubt
ist, ohne welche der Mensch zwar zur Not leben, aber nur ein hundertfach
beschnittenes, verkümmertes Leben führen kann." Dazu kann es nur eine
Alternative geben: Nämlich die Rückgewinnung dieser Stadträume und Raumbilder,
um sie wieder in Besitz zu nehmen - für uns und die "künftigen Geschlechter".
Besonders deutlich zeichnet sich das ab im Falle Warschaus, das 1944
als Hauptstadt der polnischen Nation durch deutsche SS-Einheiten dem
Erdboden gleichgemacht wurde. Der Wiederaufbau ihrer historischen Altstadt
und ihres Königsschlosses war, abgesehen von der großen denkmalpflegerischen
Leistung, ein politischer Akt von großer existenzieller Symbolkraft,
der mit weinerlicher Nostalgie ganz und gar nichts zu tun hat. Die Polen
wußten sehr genau, was sie taten. Sie wußten, daß ihr neuer Staat und
ihre große, moderne Hauptstadt nicht ohne ihr Jahrhunderte altes Erbe
würde leben können. Und wenngleich diese geschichtsträchtige, neue Stare
Miasto aus den Jahren 1951-56 eine Kopie ist, so hat sie doch inzwischen
längst Patina angesetzt und ist heute ein sehr lebendiger, sehr geliebter
Mittelpunkt städtischen Lebens. Inzwischen wurde sie von der UNESCO
als Weltkulturerbe anerkannt und ausgezeichnet.
Viele andere Städte in allen Teilen des von Kriegen heimgesuchten Europa
haben in ähnlicher Lage ähnliche Entscheidungen getroffen. Als weitere
besonders prägnante Beispiele seien genannt: Das belgische Ypern (nach
dem Ersten Weltkrieg), das französische Saint Malo, Danzig, Stettin,
Breslau und die Marienburg in Polen, aber auch Münster und Freiburg
.in Westdeutschland. Die Annahme durch die Bürger gaben ihnen Recht.
Der Dresdner Neumarkt - Ein geschichtsträchtiger Ort
Das Schicksal und die Problemlage in Dresden sind vergleichbar. Nach
der radikalen Zerstörung der Stadt im Februar 1945 bestand eine Zeitlang
die Gefahr ihres Wiederaufbaues als "sozialistische Großstadt" unter
dem besiegelten Verlust seiner historischen Substanz. Zum Glück ist
es anders gekommen. Unter großem Einsatz mutiger Persönlichkeiten und
nicht ohne Kämpfe konnten Teile der berühmten Altstadt im Umfeld des
Theaterplatzes und der Brühlschen Terrasse bewahrt und wiederhergestellt
werden. Ein Glücksfall war die Erhaltung der Frauenkirchenruine und
der Verzicht auf die Bebauung ihres Umfeldes, des Neumarktes. Hier war
einst das Herzstück der Bürgerkommune. Nach der friedlichen Revolution
und Wiedervereinigung bot sich die einmalige Chance, mit der jetzt angesagten
Neugestaltung seine historische Würde wiederherzustellen. Denn dieser
halbe Quadratkilometer städtischen Bodens mit dem berühmten Kuppelbau
als Zentrum war einst ein weltbekanntes Platzensemble gewesen, architektonisch
geprägt im 18. Jahrhundert und schwer von Geschichte. Der einzig vernünftige
Weg, das wieder neu im Bewußtsein der Dresdner zu verankern, ist auch
der gewagteste: Die wissenschaftliche Rekonstruktion. Denn wie anders
sollten wir überzeugend das Gedenken wach halten an die Ereignisse,
die der Platz im Laufe der Jahrhunderte gesehen hat, an alle die Berühmtheiten,
die hier gelebt oder als Besucher für einige Zeit geweilt haben? Wo
sollten wir in Zukunft uns erinnern an den Kurfürstlichen Kanzler Nikolaus
Krell, den Komponisten Heinrich Schütz, den Maler Adam Friedrich Oeser,
den Archäologen Johann Joachim Winckelmann, den Oberhofkapellmeister
Johann Gottlieb Naumann, den Goldschmied Johann Melchior Dinglinger
und den russischen Fürsten Putjatin, die alle am Neumarkt wohnten und
an Arthur Schopenhauer, der auf der Schlossstrasse logierte? Wie gut,
daß es die Salomonis-Apotheke wieder gibt, die durch den Mineralwassererfinder
August Struve und seinen Prinzipal Theodor Fontane berühmt wurde. Im
ehemals Hoymschen Palais gab es seit 1820 den Geselligkeits- und Musikverein
"Harmonie", in dem Carl Maria von Weber und Gottfried Semper ein und
ausgingen. Ein anderer Mittelpunkt für musikalische Aufführungen war
der Festsaal im Hôtel de Saxe. Hier wie auch im Hotel Stadt Rom, im
Hotel Stadt Berlin und dem British Hotel stiegen prominente Dresdenbesucher
wie Frederic Chopin, Fjodor Dostojewski und Karl Marx ab. Wie könnten
wir den genius loci dieses Ortes besser beschwören, als mit den wiederaufgebauten
Häusern und Palais, in denen dieser Geist einst zu Hause war? Niemand
glaubt wohl im Ernst, daß ein um die Frauenkirche herumgebautes "Klein-Rotterdam"
das geeignete Denkmal für die Fülle geschichtlicher Assoziationen sein
könnte. Die im Stadtrat sitzenden Parteien als Vertreter der Bürgerschaft
haben das inzwischen längst erkannt und den Entscheidungsträgern zur
richtigen Weichenstellung verholfen.
"Entsetzen am Neumarkt"?
So war kürzlich ein kritischer Aufsatz zum aktuellen Baugeschehen überschrieben,
der sich gleichermaßen gegen historische "Kulissen" wie verfehlte moderne
Architektur richtete. Zu Recht bemängelte er die zeitgenössisch gestaltete
Einkaufspassage im Hof des Quartiers I (QF). Unser "Entsetzen" darüber
hält sich jedoch in Grenzen, weil schon verbraucht angesichts der misslungenen
bzw. deplazierten modernistischen Versuche rund um den Neumarkt mit
Advanta-Riegel, Coselpalais-Billiganbau, Tiefgarageneinfahrt vor dem
Kurländer Palais, Fluchttreppe am Landhaus und den Abschreibungsbauten
am Altmarkt. Nach diesen teils banalen, teils verunglückten Objekten
neuester Architektur im sensiblen Stadtzentrum, die den Blicken leider
nicht - wie beim Quartier QF - in Höfen verborgen sind, war unser Erwartungspegel
eher niedrig. Ob ein modernes Gewandhaus das Gesamtbild des Neumarktes
verbessern wird, darf bezweifelt werden. Was die rekonstruierten historischen
Gebäude betrifft, so gibt es wie fast immer gute, halbwegs vertretbare
und inakzeptable Lösungen. Die Gründe dafür sind differenziert wie die
komplizierte Bauaufgabe. Daß nach den Flächenzerstörungen des Zweiten
Weltkriegs ein originalgetreuer Wiederaufbau des Vernichteten unter
bestimmten Umständen - wie die obengenannten Beispiele demonstrieren
- eine seriöse Bauaufgabe sein kann, darüber gibt es seit der "Dresdner
Charta" von 1984 zum Denkmalsbegriff auch in der Fachwelt inzwischen
kaum noch Zweifel. Wer nach der gelungenen archäologischen Rekonstruktion
der Dresdner Frauenkirche hier noch mit dem dümmlichen Schimpfwort "Disneyland"
operiert, weiß nicht, wovon er spricht. Problematisch wird eine Rekonstruktion
erst mit der Ortsverschiebung und der Verfälschung des Originals, deren
Grad mit dem zeitlichen Abstand von jenem offenbar unvermeidlich zunimmt.
Gründe dafür sind neben dem Fortschritt der Bautechnik vor allem neue
Erfordernisse und gesetzliche Vorschriften sowie veränderte Nutzungskonzepte.
Hauptursache für die unbefriedigende Qualität der Flächenbebauung am
Neumarkt ist indessen das Walten der Gesetze des Freien Marktes mit
seinem ausschließlichen Rentabilitätsdenken und dem Amortisierungszwang
des Kapitals. Am Neumarkt äußert es sich am Trend zu Billigbauweisen
und inakzeptablen Materialimitationen anstelle soliden Nachbaues der
Vorbilder. Das liberale "Laissez-faire" gegenüber Investoren, die hier
vor allem renditeorientiert bauen wollen, impliziert die Gefahr ihrer
Gleichgültigkeit gegenüber den Interessen des Gemeinwesens an diesem
besonderen Ort. Am Neumarkt jedenfalls hätte sich ein entschiedeneres
Durchsetzen von Vorgaben gegenüber den zumeist gesprächs- und kooperationsbereiten
Bauherren und ihren Architekten gelohnt. Leider hat es die Stadtverwaltung
bis heute versäumt, ihrer durchaus verdienstvollen "Neumarktsatzung"
Rechtskraft zu verleihen, so daß ihr Gestaltungsbeirat wie auch die
städtischen Entscheidungsträger zahnlose Tiger bleiben. Die Ernsthaftigkeit
und Effizienz einer Stadtplanung muß bezweifelt werden, die strikte
Direktiven zur Durchsetzung bestimmter Kriterien und gestalterischer
Qualität am sensibelsten Ort Dresdens ablehnt und deren Leitdevise lautet,
"die Stadt könne es sich nicht leisten, potentielle Bauherren durch
hohe Qualitätsforderungen zu vergraulen". (Baubürgermeister Feßenmayr).
Es ist ein unentschuldbares Versäumnis, daß "der geplante Ansatz der
Leitbauten gar nicht ernsthaft betrieben worden ist"(so Annette Friedrich,
ehem. Stadtplanerin in Dresden). Umso dankbarer darf man für das sein,
was verantwortungsvolle Investoren dennoch am Neumarkt geleistet haben.
Wer die trostlose Steppe zwischen Johanneum und Albertinum erlebt hat,
muß ein Hochgefühl empfinden beim heutigen Blick vom Jüdenhof aus auf
die wiedererstandene Frauenkirche und die schöne Rundung der vorgelagerten
Fassadenfront mit dem Hotel Stadt Berlin, dem Hammerschen, dem Weigelschen
Haus und dem "Goldenen Ring".
Ich
denke, die Dresdner sind in ihrer Mehrheit nicht jene modernefeindlichen
Spießer, denen es nur um "das Erzeugen heimeliger Wohlfühlstimmung"
(Zitat) geht, wenngleich sie sich in ihrer Innenstadt schon wohlfühlen
möchten. Sie sind durchaus in der Lage, sowohl ihr historisches Zentrum
als auch ihren modernen Landtag, ihren neuen Kongreßkomplex und ihre
neue Synagoge zu schätzen. Aber sie besitzen von jeher ein Gefühl dafür,
dass nicht alles an jedem Ort möglich ist. Das neue Dresden ist für
Vieles offen, aber die Stadt muß Charakter, muß Profil zeigen. Da, wo
zeitgenössisches Bauen hingehört, wie etwa am Postplatz, sollte Kühnheit,
Einfallsreichtum und Qualität durchgängig sein. Dort. wo Historie dominieren
soll, muß Historie auch mit Kraft und Entschiedenheit durchgesetzt werden.
Nur so kann sich Spannung aufbauen, kann der gewünschte Dialog zustande
kommen.
Die "Gesellschaft Historischer Neumarkt"
Angesichts der Tatsache, daß sich die Denkmalpflege aus dem Diskurs
um hohes Niveau des Bauens am Neumarkt weitgehend heraushält, die Stadtverwaltung
aber sich nicht traut, erhält das hartnäckige Mahnen und Fordern des
Neumarktvereins nach gewissenhaftem Umgang mit den historischen Vorgaben
und deren qualitätvoller Umsetzung einen besonderen Stellenwert. Vor
zehn Jahren bildete sich im Dresdner Geschichtsverein jene kleine Initiativgruppe,
die sich 1999 zum Neumarktverein konstituierte. Die Zielvorgaben, für
die sie damals antrat, als die Frauenkirchenbaustelle noch ganz allein
das unbebaute Areal beherrschte, befinden sich längst im Stadium der
Realisierung. Heute wie damals bekennt sich die Gesellschaft zu jenem
dialogischen Neumarktbild, das "aus den einstigen Quartieren und Straßen,
(...) wiedererstandenen erkergeschmückten Bauwerken wie kulturgeschichtlich
bedeutsamen Leitbauten, aber auch mit Gebäuden in heutiger Architektursprache"
neu entstehen soll (Gunter Just, damals Baubürgermeister). Heute hat
die Gesellschaft über sechshundert eingeschriebene Mitglieder und ungezählte
Sympathisanten in aller Welt. Als ein von ihr 2002 durchgeführtes Bürgerbegehren
für den historischen Neumarkt und eine rechtlich verbindliche Gestaltungssatzung
das überwältigende Ergebnis von 63 000 Ja-Stimmen erbrachte, wurde dieses
Bürgervotum wegen bestimmter Formulierungen als unzulässig erklärt und
blieb unberücksichtigt. Der Frankfurter Publizist Dankwart Guratzsch
aber nannte die Dresdner und ihre Stadt dank der "unbeirrbaren Vordenker
in der Neumarkt-Gesellschaft Vorbild und avantgardistische Vorhut für
ganz Deutschland," die "junge Bewegung" für Rehabilitation des historischen
Neumarktes aber "eine der ungewöhnlichsten Bürgerinitiativen überhaupt."
Wenn der deutsch-amerikanische Weltbürger und Nobelpreisträger Günter
Blobel die Dresdner Initiative als revolutionär bezeichnet, so meint
er damit ihren Mut, jene Konventionen zu durchbrechen, die in den letzten
60 bis 80 Jahren speziell in Deutschland als Dogma und Credo zum kompromisslos
antihistorisch - zeitgenössischen Stadtkernkonzept den Städtebau beherrschten.
Stadtplanung,
Denkmalpflege und Wertewandel
Viele Städte, die in den fünfziger und sechziger Jahren des vergangenen
Jahrhunderts ihre schwer beschädigten historischen Zentren abräumten
und durch damals zeitgemäße Neubauten ersetzen ließen, bereuen heute
ihre Entscheidung. Die "Moderne" von damals ist längst unmodern und
unansehnlich geworden, denn sie verbraucht sich schnell und hat nur
eine kurze "Halbwertzeit". Die Gründe für ihr Versagen liegen nicht
nur in der emotionalen Kälte, die von Gebilden absoluter kubischer Stereometrie
ausgeht. Es ist ihr auch nicht gelungen, "die Komplexität eines über
Jahrhunderte gewachsenen Stadtgefüges wiederherzustellen. Dazu reicht
offenbar das Vokabular der neuzeitlichen Architektursprache nicht aus"
(Architekt Dieter Schölzel). Dagegen wird die Überlieferung wieder maßgebend
und vorbildlich, "weil Sie das Maß des Menschen besser und erfahrener
zu treffen wußte als die Hybris zellentürmender Visionäre" (Friedrich
Dieckmann). Seit einigen Jahren ist deutschlandweit ein Umdenken im
Gange. Den uniformierenden Tendenzen der Globalisierung wird wieder
regionale Eigenart entgegengesetzt. Die Stadt von heute will wieder
unverwechselbar sein. Dazu gehören aber unabdingbar die materiellen
Zeugen ihrer Geschichte. "Konstruktionen urbaner Identität" heißt der
Titel eines aktuellen Forschungsprojektes. Das Bedürfnis nach Auferstehung
verlorener Stadtbilder hat inzwischen Städte wie Potsdam, Braunschweig
, Mainz und sogar die Hochhaus-City Frankfurt am Main erreicht. Deren
Oberbürgermeisterin Petra Roth stellte sich, getragen von allen politischen
Fraktionen des Stadtparlaments und der großen Wirtschaftsverbände an
die Spitze einer Bürgerinitiative zumeist junger Leute zum Wiederaufbau
verschwundener Fachwerkhäuser und des Palais Thurn und Taxis. Der Ruf
nach dem modernen Zentrum im Zeitgeschmack um jeden Preis - das war
gestern. Daß auch die Denkmalpflege diesem allgemeinen Umdenken Rechnung
tragen möge, wurde kürzlich auf einer Tagung des Lehrstuhls für Kunstgeschichte
an der TU Dresden gefordert. Immer öfter wird jener Materialfetischismus
in Frage gestellt, den vor über hundert Jahren Gelehrte wie Dehio, Riegl
und Dvorak - damals zurecht - theoretisch begründet haben.
Heute gibt es einen breiten, fachinternen Disput über die Frage, was
eigentlich Träger der Identität eines Baudenkmals ist und ob sich sein
Wesen in seiner Materialität erschöpft. Der polnische Denkmalpfleger
Andrzej Thomaszewski nennt in seinem Aufsatz über "Geistige und materielle
Werte des Kulturdenkmals" viele Beispiele einer anderen als der dogmatisierten
europäischen Auffassung. Sein Fazit für uns lautet: Sind die Voraussetzungen
für eine weitgehend identische Wiederholung eines Kulturdenkmals am
selben Ort gegeben, so können moralische, kulturelle und soziale Gründe
eine Rekonstruktion rechtfertigen. Die Entscheidung darüber aber muß
auf der politischen Ebene getroffen werden. So geschah es in Warschau
und so in Dresden. Ich bin sicher: Der Neumarkt wird ebenso wie die
Stare Miasto der polnischen Hauptstadt als bedeutende städtebauliche
Leistung des späten 20 und frühen 21. Jahrhunderts in die Geschichte
eingehen.
Quellen:
- Wochenzeitung "Freitag" vom 8.12.2006
- Sächsische Zeitung vom 25.10.2006
- Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.1.2007
- Die Dresdner Frauenkirche. Jb. Zu ihrer Geschichte und zu ihrem
archäologischen
Wiederaufbau, Weimar 2001, Bd.7, S.47 - 66
- Neumarktkurier, 5.Jg.,1.Heft 2006
- Dresdner Hefte, 13. Jg. H.44, 4/95 (Der Dresdner Neumarkt auf
dem Weg zu einer
städtischen Mitte)
Der Artikel erschien
im jüngsten Neumarkt-Kurier 2- 2007
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