Denk- mal!
 
Denkmalwürdigkeit von Rekonstruktionen?

Denk Mal!

Die aktuell noch bis 13. November 2005 im Dresdner Schloss laufende Ausstellung "ZeitSchichten" zu 100 Jahre Denkmalpflege in Deutschland seit der Herausgabe des ersten Handbuches der Deutschen Kunstdenkmäler durch Georg Dehio 1905 macht tatsächlich auf eine Problematik aufmerksam, über die man nicht so einfach hinweggehen sollte. Die neu errichteten Leitbauten und -fassaden am Neumarkt, Kopien von kriegszerstörten barocken Gebäuden, werden - selbst wenn sie auch im Grundriss völlig authentisch dem damaligen Original entsprechen, eben nicht mehr das verloren gegangene Original ersetzen können. Die letzten originalen Reste der Neumarkt-Bürgerhäuser sind durch den Abriss der Kellerfundamente mit Segen des sächsischen Landesamtes für Archäologie verschwunden. Wenn überhaupt, existieren nur noch einige Fragmente aus dem Schutt geretteter plastischer Bauteile.
Die in den nächsten Jahren gebauten Repliken werden zunehmend den herkömmlichen Denkmalpflegebegriff attackieren. Die Frage stellt sich: sind diese Neubauten des ersten Jahrzehnts unseres 21. Jahrhunderts nun Denkmäler oder nicht? Welchen Wert hat z.B. ein originales Bürgerhaus in der Innenstadt von Bautzen oder Pirna im Verhältnis zu den nachgemachten Büro-, Wohn-, Shoppinghäusern mit scheinbar "historischer" Fassade am Neumarkt?


Auch heute noch im Original vorhandene Barockbürgerhäuser am Hauptmarkt von Bautzen
(Aufnahme: ca. 1920)

Bei der Beantwortung der Frage hilfreich ist vielleicht ein Schwenk gerade auf die Anfänge der in der Dresdner Denkmalpflege- Ausstellung vorbildlich aufgefächerten Entwicklung des Deutschen Denkmalschutzes seit 1900. Damals wurde zum ersten Mal, aufbauend auf die Arbeit Schinkels und anderer, von Dehio ein Bewusstsein um den Wert eines Baudenk-mals wissenschaftlich dargelegt und daraus folgend die Notwendigkeit anvisiert, dieses Einzelbauwerk oder eben ein ganzes städtebauliches Ensemble vor rabiater Veränderung oder gar Abriss zu bewahren.
Gerade in der stürmischen deutschen Gründerzeit in den Jahrzehnten zwischen 1871 bis 1900 kam es ja in den Großstädten zu gewaltigen Veränderungen. Der Prozess der Citybildung mit all den neuen Funktionen von Warenhäusern, Bank- und Versicherungsgebäuden, Varieté- und Kinotheatern hatte eine Beschleunigung von Abrissmentalität eingeleitet, der sich verantwortungsvolle Kunsthistoriker mit lauter Stimme entgegen stellten. (siehe auch: www.dehio.org)

Nehmen wir das Beispiel Dresden: am Altmarkt, in der neuen Prager Straße, aber auch an vielen anderen Plätzen der alten Barockresidenz vollzog sich mit atemberaubender Geschwindigkeit eine Transformation in die moderne Großstadtcity. Dutzende, Hunderte Barockhäuser wurden abgerissen - am Altmarkt z.B. für das Kaufhaus Herzfeld 1901 Wohnhäuser aus dem 18. Jahrhundert, am Ring ebenso wie am Postplatz und an anderen Stellen. Ebenso mussten an der Prager Straße die Villen und Gärten des frühen 19. Jahrhunderts den neuen Bedürfnissen einer erhitzten Vergnügungs-, Markt- und Konsumgesellschaft Platz machen. All das ist bekannt.


Dresden: Geschäftshaus Prager Straße 43 (Landwirtschaftlicher Kreditverein)
Architekt: Kurt Diestel (Aufnahme: 1902) / 1946 noch komplett erhalten,
nur ausgebrannt, später abgerissen.

Auch am Neumarkt riss man kurzerhand das noble, sicher auch sanierungsbedürftige Hotel de Saxe 1888 mit dem eleganten Festsaal ohne viel Skrupel ab, um ein prunkendes, eklektizistisches Postgebäude zu errichten, ganz im Sinne des nach Weltgeltung strebenden wilhelminischen Kaiserreichs. Abgebrochen wurden die Rokkoko-Kleinbauten auf der Brühl'schen Terrasse zugunsten der neuen Kunstakademie. Ebenso fielen im Neumarktumfeld jede Menge originaler barocker Adels- und Bürgerpalais neuen Nutzungen zum Opfer, wie z.B. auf der Schiessgasse für den Monumentalbau des einschüchternden Polizeigebäudes 1894-98 eine ganze Fassadenreihe schönster Bürger- und Adelshäuser des Dresdner Barocks.


Dresden, ehemaliges Brühl'sches Palais auf der großen Schießgasse, um 1718 bis 1730,
wohl von Pöppelmann. 1886 abgerissen, auch insbesondere für den Straßendurchbruch der König-Johann-Straße, der 1885-88 zur Verbesserung der Verkehrsituation als Verbindung vom Altmarkt zum Pirnaischen Platz geschaffen wurde. Cornelius Gurlitt wies in seinem Buch "Bau- und Kunstdenkmäler der Stadt Dresden" von 1903 auf diese verlorene Barockbausubtanz mit Bildern hin.
Der Kunstwissenschaftler Gurlitt hatte sich sehr intensiv mit der Baukunst des 18. Jahrhunderts auseinandergesetzt und wesentlich dazu beigetragen, daß man den Werken des Barock Denkmalwert zuerkannte.

In diesem fiebrigen Veränderungsklima stießen nun die hörbar lauten Warnungen deutscher Kunstwissenschaftler zum Erhalt von Originalsubstanz - anstatt rauschhafter Orgien historisierender Geschichtserfindungen der heftig kritisierten Neobaustile, die als Kompensation für unsere späte Nationwerdung überall im Land bedenkenlos inszeniert wurden. Das Wesen unserer Stadtkerne sollte nicht übermäßig historisiert werden, sondern - so der Aufruf - auf bestimmte im Original noch vorhandene, herausragende Platzbilder im Ganzen erhalten bleiben.

Der "Erste Tag für Denkmalpflege" fand dann im Jahr 1900 nicht ganz zufällig in Dresden statt. Im Umfeld dieser Denkmalpflegebewegung als Gegenimpuls zu enthemmter Modernisierung wurde eben nun gerade auch der Dresdner Neumarkt vor weiteren Abbrüchen und entstellenden Gründerzeitneubauten bewahrt. Das einzigartige barocke Gesamtensemble blieb, auch u.a. durch den verdienstvollen Einsatz des Dresdner Kunsthistorikers Gurlitt, vor den Begehrlichkeiten der sich im historischen Gewand präsentierenden Moderne geschützt.

Die Zugriffe gründerzeitlicher Investoren und damals bereits in ersten Ansätzen international agierender Weltkonzerne, die sicherlich die Attraktivität des Frauenkirchen-umfeldes für ihre im passenden Zeitgeschmack errichteten Repräsentationsbauten gern genutzt hätten, konnten in den folgenden Jahrzehnten bis 1945 erfolgreich abgewendet werden.
Was nicht heißt, dass trotzdem eine Unmenge baulicher Veränderungen, wie neuzeitliche Ladeneinbauten + Schaufenster (welche es in den barocken Bürgerhäusern kaum gegeben hatte), Einbauten von Wasserspülung und Bädern etc. vorgenommen wurden.
Auch der Schutz des bedeutenden Platzbildes mit großer Symbolkraft vor aggressiver Markenwerbung gehört in diese sich selbst bewußte Denkmal- und Stadtbildpflege. Aggressive kapitalistische Chlorodont-, Odol- oder Pfunds-Molerei- Reklame gehörte eben nicht in die deutlich sichtbare visuelle Kommunikation des festlichen Barockplatzes.

So blieb der Neumarkt und dessen Umfeld als Flächendenkmal, wie die europäischen Innenstadtplätze von Riga, Stockholm oder Salzburg und viele andere auch, im wesentlichen in seinem äußeren Erscheinungsbild - auch durch das Bemühen vieler Denkmalschützer erhalten - in Dresden bis 1945.

Man sollte diese damaligen Bemühungen der deutschen Denkmalpflege in heutige Überlegungen zum Verhältnis zwischen der zu schützenden authentischen Originalsubtanz und möglichen Rekonstruktionen kriegszerstörter Bauten mit einbeziehen. Diese dem damaligen entfremdeten Industrieproletariat wie dem jetzigen modernen Bürocomputer-arbeiter ebenso wichtigen Geschichtskerne (als Zeichen ihrer Zugehörigkeit zu einem verbindenden Gemeinwesen) sollten als Teil einer lebendigen Erinnerungskultur in einem vernünftigen Verhältnis von Zeitgenössischem und Traditionsbildern erlebbar gemacht werden. Gerade im Prozess einer beschleunigten Auflösung des herkömmlichen Stadtbegriffs durch globalisierte, perforierte oder virtuelle Städte verstärkt sich eben eine Sehnsucht, solche, wenn auch ein Stück weit künstlich erzeugten "Geschichtsinseln" selbst materiell zu erfahren. Das schmälert nicht den herausgehobenen und den nicht zu relativierenden Wert des Originals. Aber die Originale einer Bürgerkultur sind halt in einer so schwer durch Krieg und Ruinenberäumung radikal enthistorisierten Stadt wie Dresden nicht mehr vorhanden. Sie wandern eh, falls noch im Stadtraum vorhanden, ins Museum und werden allerorten durch Kopien ersetzt, wie viele barocke oder Renaissance Skulpturen, so auch in Dresden beim Moritz-Denkmal, bei den Zwingerfiguren und vielen anderen originalen Kunstwerken.


Dresden: Jungfernbastei Nord-Ostecke. Moritzmonument von Hans Walter,
nach 1553, hier in einer Aufnahme von 1990. Inzwischen durch eine Kopie ersetzt.

Was wir dennoch am authentischen originalen Ort sehen sind Ideen, seit Jahrzehnten des frühen 20. Jahrhunderts immer wieder reproduzierte Abbilder einer künstlerischen Idee, wie es uns z.B. eben auch die unablässig währende Pflege und Wiederherstellung des Dresdner Zwingers vor Augen führt. Von ihm ist, das ahnen die wenigsten, heute kaum noch 10% originaler Bausubstanz vorhanden und dennoch wissen wir die Dublikate fröhlicher Heiterkeit einer privilegierten Hofkultur ganz entspannt und demokratisch zu genießen - ohne zu unterscheiden, was nun noch original Pöppelmann, was 19., 20. oder 21. Jahrhundert ist. Ein heutiger zeitgemäßer Denkmalpflegebegriff integriert diesen ideengeschichtlichen Hintergrund im Verständnis des Gesamtwertes eine Denkmales und macht so auch dessen vergangene philosophische, soziale und politische Vorstellungen von Zeitgeist und Baukultur anschaulich. Ob man da eher das Zeitschichtenhafte betont oder mehr die Wirkung des Gesamtensembles als das Einzelteil im Auge hat, hängt natürlich auch von unserem jetzigen Gesellschaftsbegriff zusammen. Deutschland 2005. Unsere deutsche Ost-West-Gesellschaft tut sich mit einer neuen gemeinsamen Identitätsbildung im Zuge eines schmerzhaften deutschen (und europäischen) Einigungsprozesses eben doch sehr schwer. All das kann in 10 oder 20 Jahren schon wieder ganz anders aussehen.


Zwinger, Pavillon F (Mathematischer Salon), Putte F 20, Modell V, September 1947 (Ausschnitt)

Und vielleicht - um zum Ausgangspunkt der Denkmalwürdigkeit von Reproduktionen zurück zu kehren, wird man dann drei oder fünf Generationen später - jenen heute gebauten ausgleichenden Kompromiss am Neumarkt als das Typische und Erhaltenswerte eines dann als Denkmal erkannten Wertes schätzen, bewahren und wiederum verteidigen wollen vor den Veränderungswünschen des nächsten 22. Jahrhunderts. Heute jedoch - zur Erbauungszeit 2005 sind die Repliken von Leitfassaden oder Leitbauten am Neumarkt keine Konkurrenz zum originalen Denkmal.

 

Thomas Kantschew (August 2005)