FEUILLETONMittwoch, 14. März 2001
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Wo der Blick zurück Tradition hat

Totalrekonstruktion der Innenstadt und Zerstörung der Umgebung: Nirgends wird die aktuelle Stadtplanung so emotional beobachtet wie in Dresden, wo das Ausmaß der Kriegszerstörungen noch sichtbar ist

Verlorenes wiederzuerfinden sei verlogener als falsche Haare und der Mythos von der Barockstadt Dresden eine Lebenslüge. So hat der gebürtige Dresdner, jetzt Kölner Architekt Peter Kulka einmal geschimpft. Man müsste verbessern: Der Mythos vom Alten Dresden ist eine derart notorische Lebenslüge, dass man sie fast schon als Lebenswahrheit betrachten muss. Immerhin war das Alte Dresden nie neu. Und wo es neuer war als barock, da war es auf barocke Weise schön. Das Barockste daran ist vielleicht, wie diese Stadt es schafft, eine Allianz von Denkmalschützern, Architekten und konservativen Wirtschaftspolitikern zusammenzuschweißen.

Eigentlich können die Stadtväter ja froh sein über ihre lyrischen Standortvorteile: Am Rande des Großen Gartens, wo vor hundert Jahren im Vorfeld des Werkbundes ein gläserner Ausstellungspalast industriell gefertigtes Kunsthandwerk zeigte, da hat VW jetzt eine „Gläserne Manufaktur“ fertiggestellt. So als solle dort der Maybach in Handarbeit gefeilt werden. Andernorts würde diese Anbiederung seltsam wirken, doch wer mit Arbeitsplätzen winkt, darf im Osten gewöhnlich machen, was er will. In Dresden aber musste der Konzern erst seine markanten Hochhaus-Ambitionen zurechtstutzen, bevor er bauen durfte. Wegen der Silhouette.

Das erste Mal konnte man sie Anfang der Neunziger sehen: Männer, die bestürzt mit ihren Aktenkoffern durch die Stadt stolperten, das Wort „Sichtbeziehungen“ auf den Lippen. Da war der High-Tech-Firma Tadicom eben erklärt worden, aus ihrem Hochhaus an der Elbe könne nichts werden. Weil die Sichtbeziehungen vom Zentrum zu den Hügeln des Umlandes denkmalgeschützt sind. Das sind sie übrigens, weil es auch in der DDR Planungen gab, die Perle des historischen Stadtkerns mit einer Fassung aus Hochhäusern zu umgeben, sie vom landschaftlichen Zusammenhang abzuschneiden.

Dieser städtebauliche Gedanke hat sich vom Sozialismus offenbar bruchlos an den Kapitalismus weitervererbt. Aber Dresden will noch immer nicht. Die Schöne aus dem Osten ist auch für solvente Galane eine höchst kapriziöse Diva. Das kann sie sich zwar nicht leisten, tut es aber trotzdem. Solche Zickigkeiten haben natürlich durchaus ihren Reiz. Vor allem, wenn die Regenten wie humorlose Ehemänner zetern: Denk auch mal ans Geld, nicht immer nur ans Outfit. Es ist ein Unbehagen am Schein, dem das Sein nicht recht hinterherkomme.

Und genau das ist ja auch der Kern des ganzen Wiederaufbau-Ärgers. Den gab es, weil das Schloss nicht wie am Tage vor seiner Zerstörung rekonstruiert wird, sondern in einem leicht idealisierten Renaissance-Zustand. Es gab ihn, als aus dem imposanten Weltkriegsmahnmal wieder die Frauenkirche entstehen sollte. Und den Ärger gibt es jetzt am Neumarkt, wo eine starke Lobby dafür plädiert, dass auch Jahrzehnte nach der Totalzerstörung ein originalgetreuer Wiederaufbau möglich sein sollte. Diese kleinteiligen Sehnsüchte beantworten Architekten gern mit besonders wuchtigen Visionen, was wiederum umso kleinteiligere Sehnsüchte hervorruft. Ein Ringelpietz aus Trotz und Gegentrotz ist das, der außer einigen ziemlich durchschnittlichen Bauten vor allem einen großen Stillstand gebracht hat.

Die bockige Abwehrhaltung untergräbt auf ungewöhnlich breiter Front den common sense von westdeutschem Städtebau und Denkmalpflege. Leute, die die unverzagten Schloss-Rekonstrukteure an die strenge Denkmalschutzdoktrin von Georg Dehio mahnen, stehen hier plötzlich da wie skurrile Materialfetischisten. Und wer zeitgenössische Bauten fordert, müsste den Zeitgenossen, die da nach alten Plänen neue Häuser bauen, erst einmal genauer erklären, was genau er meint, und warum das besser sein soll.

Auch der Vorwurf, dass historischer Wiederaufbau Kriegszerstörungen und Nachkriegsmoderne nicht nur ästhetisch, sondern auch politisch ungeschehen machen wolle, steht hier argumentativ vor dem Problem, dass man dann die Moderne als gerechte Strafe missverstehen könnte. Seit zudem die innenstädtischen Ensembles für den Neuen Sozialistischen Menschen zu Beginn der 90er Jahre großflächig das waren, wofür später der Euphemismus „national befreite Zone“ aufkommen würde, sind Zweifel berechtigt, ob selbst eine Totalrekonstruktion der Stadt etwas noch Geschichtsblinderes hervorzubringen vermöchte.

Die örtlichen Fachleute treten den Ressentiments breiter Bevölkerungskreise in der Regel nicht entgegen, sondern teilen sie häufig sogar. Von dem Engagement Ostberliner Architekten für den Erhalt der DDR-Moderne ist bei ihren Dresdner Kollegen wenig zu spüren. Im Gegenteil. Auch ihre Abwehrhaltung allen auswärtigen Neuerern gegenüber hat augenscheinlich etwas damit zu tun, dass viele Dresdner ihre jetzigen Kulissen als die eigentlich falschen empfinden und die Rolle rückwärts als Richtigstellung, damit ein spezifisches, durchaus konservatives Dresdner Lebensgefühl wieder einen angemessenen ästhetischen Ausdruck bekommt.

Als die elegante Residenzstadt, die einmal als schönste Deutschlands galt, am 13. Februar 1945 ausgelöscht wurde, war das ein Schock, der seine Wirkung bis heute nicht verloren hat. Selbst Leute, die das Alte Dresden gar nicht mehr gesehen haben, können sein Verschwinden nicht so recht verwinden. Der generationsübergreifende Kollektivschmerz hat das sozialistische Dresden nie wirklich in Dresden ankommen lassen; es blieb ein genutzter, aber nie gemochter Fremdkörper, wie alles Üble dieser Welt von Berlin aufoktroyiert. Was soziologisch schon nicht zusammenpasste – residenzstädtisches Beamtenbürgertum und Licht-Luft-Sonne-Sozialismus –, kam auch städtebaulich nie recht zueinander.

Dafür hatte von Anfang an eine renitente Phalanx von Denkmalpflegern gesorgt, welche die feindlichen Wucherungen geschickt durch einem Todesstreifen von den Preziosen der Elbfront fernhielt. Hinter der Brühlschen Terrasse kippt Dresden bis heute ab ins Nichts. Eine Grünfläche mit den alten Straßenzügen drin – Bauland, das über all seine Jahre als Parkplatz oder Wiese das Versprechen des Wiederaufbaus in sich trug. Genau dies soll nun am Neumarkt eingelöst werden. Schon aus Verpflichtung für Männer wie Fritz Löffler und Hans Nadler, die gegen Ulbrichts Dresden-Hass und Planungswut so viel von der alten Stadt verteidigten, wie sie eben konnten. Vielleicht wurde Löffler für seinen Bestseller „Das alte Dresden. Geschichte seiner Bauten“ von den Kommunisten mit Recht wie ein staatsfeindlicher Konterrevolutionär geächtet. Immerhin war das Buch seit seiner Erstauflage 1955 eine Heilige Schrift, mit der sich altgläubige Dresdner erfolgreich gegen die Zumutungen der sozialistischen Zeitläufte zur Wehr setzten. Dresden als Himmlisches Jerusalem.

Der ästhetische Reiz der DDR-Ensembles erschließt sich vor diesem Hintergrund natürlich nicht so leicht. Dafür sind Auswärtige davon oft ziemlich begeistert. Und manche haben die sozialistischen Riegel wundervoll mit Neubauten bespielt: Coop Himmelb(l)au mit ihrem futuristischen Kino, Günter Behnisch mit seinem katholischen Gymnasium. Auch Peter Kulka hat mit seinem gläsernen Landtagsanbau an die neusachliche ehemalige SED-Zentrale gezeigt, wie schön die Moderne in Dresden aussehen kann. Wo aber das mythisierte Alte Dresden am brutalsten auf das sozialistische trifft, am Postplatz, da hat sich eben erst Heinz Tesar zwischen Zeilenbauten und Barockpalais eindrucksvoll selbst zerquetscht. Gegen die Erinnerung an die von Ulbricht in Schutt und Asche gehasste Sophienkirche kommt an dieser Stelle aber vielleicht ohnehin keiner an.

Die Moderne hat es hier auch deshalb nicht leicht, weil sie in der jüngeren Vergangenheit so viele Vorurteile auch erfüllt hat. Vor einer dritten Stadtzerstörung, diesmal durch bauwütige Investoren, wurde 1990 gewarnt. Und tatsächlich klinkte die Dorint-Gruppe so etwas wie einen „Fat Man“ über der Innenstadt aus: das schätzungsweise furchtbarste Hotel der Welt, eine furunkelnde Autobahnraststätte. Und direkt vertrauensbildend kann man die vielen Abschreibungswohnbauten der letzten Jahre ja auch nicht nennen, die sich ihre meist südwestdeutschen Planer nicht mal in Südwestdeutschland erlauben würden.

In den Vororten liegen übrigens die viel größeren Probleme Dresdens. So wie heute Siemens im Wald und VW in angeblichen Manufakturen versteckt werden – während in den neusachlichen Industriebauten der ehemaligen Ernemann-Werke Kultur stattfindet –, so wurden ja schon vor hundert Jahren ein Schlachthof als bayrisches Dorf und eine Tabakfabrik als Moschee getarnt. Die Industrialisierung sollte Dresden wohlhabender machen, aber bitte schön nicht hässlich!

Aus jener Zeit stammt das Hohelied auf das Alte Dresden. Und je lauter das barocke Schmuckstück damals besungen wurde, desto mehr barocke Schmuckstückchen wurden hinterrücks abgetragen. Das Brühlsche Palais wich Wallots wuchtigdunklem Ständehaus. Wilhelm Kreis vergrößerte für die Schifffahrt Pöppelmanns berühmte Brückenbögen. Ausgerechnet das Schauspielhaus ruiniert seit 1913 Dresdens theatralischste Inszenierung, indem es das Kronentor des Zwingers übersteigt. Und für das pompöse Rathaus von 1905 wurde ein komplettes Barockviertel abgerissen. Diese Häuser standen noch am Ende jenes 19. Jahrhunderts, das Dresden weit mehr geprägt hat als der Barock – in den besten Momenten durch die Neorenaissance Sempers und durch den Neobarock Hans Erlweins. Wann immer sich Dresden modernisierte, klammerte es sich an die Bilder der eigenen Geschichte, und sei es auf deren Kosten. Insofern bleibt sich die Stadt in den gegenwärtigen Querelen strukturell sehr treu.

Ohne Beispiel ist allerdings der Bevölkerungsschwund, der Dresden neuerdings prognostiziert wird. Dem Traumbild einer dichten Gründerzeit-Barock-Stadt mit pastoralem Umland droht nun der Albtraum eines zersiedelten Umlandes rings um Kulissen, die dann tatsächlich leer blieben – gleich ob sie „historisch“ oder „zeitgenössisch“ aussehen. In den vielen Villenvororten hört man seit geraumer Zeit schon mehr Schwäbisch und Rheinländisch als Sächsisch. Und die alten Bewohner nageln ihre Bellotto-Veduten stattdessen an die Betonwände von steuervergünstigten Reihenhäuschen, die von geltungssüchtigen Dorfschulzen in erschreckendem Ausmaß über die Anger gewürfelt werden.

Die neuen Verkehrsströme aus dem Umland überfordern allerdings das historische Stadtgefüge. Da trifft es sich, dass in den letzten zehn Jahren der öffentliche Nahverkehr so gut wie abgeschafft wurde und die Landesregierung mit ebenso haltlosen wie ungehaltenen Sichtschutzversprechungen eine Autobahn über die sensiblen Südhänge durchsetzen konnte. Ob sie je in Prag ankommt, ist auch schon wieder fraglich geworden. Während also in der Innenstadt ein ebenso bedenklicher wie bedenkenswerter Historismus exerziert wird, droht weiten Teilen der übrigen Stadt genau das Bild, das im Inneren gebannt werden soll: die Planungsphantasie eines ADAC-Funktionärs aus den 60er Jahren. Als Füllung für die historischen Fassaden des Neumarktes wäre dann vielleicht ein Parkhaus das beste.

PETER RICHTER


Bildunterschrift:

Die berühmte Elbansicht Dresdens ist nach dem katastrophalen Bombardement der letzten Kriegstage wieder hergestellt worden, doch die Altstadtpartien dahinter sind, von der Frauenkirche abgesehen, restlos abgeräumt.

Foto: SZ-Archiv

In der „Gläsernen Manufaktur“, die das Architekturbüro Henn auf die Ecke des Großen Gartens gesetzt hat, produziert VW Luxuslimousinen.

Foto: AP

 

 

Titel
  SZ vom 14.03.2001 - Feuilleton
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