Dr. Stefan Herzig:
 

Grundsätzliche Überlegungen zum Wiederaufbau des Dresdner Neumarktes


"Nur eine differenzierte Betrachtung der Geschichte und Kunstgeschichte des Dresdner Neumarktes führt zu Aussagen über den Wert dieser Anlage. Dieser Platz stellte in seinem historischen Erscheinungsbild ein in mehreren Jahrhunderten gewachsenes städtebauliches und architektonisches Gesamtkunstwerk von europäischer Bedeutung dar. Er repräsentierte noch bis 1945 einen barocken Städtebau höchsten Niveaus, der nicht nur durch massive Eingriffe und Abbrüche, sondern durch ein angemessenes Abwägen zwischen künstlerischenm Anspruch und wirtschaftlicher Möglichkeit, allein aufgrund seiner gestalterischen Kraft ein faszinierendes Stadtbild zu schaffen imstande war. Zum entscheidenden Wendepunkt in der Gestaltung des Neumarktes wurde der Neubau der Frauenkirche, die als ein monumentaler, allsichtiger Zentralbau mit starker Vertikaltendenz dem unregelmäßig geformten Platz eine Richtung gab und die zuvor divergierenden Teile zusammenzog. Der Neumarkt ergab zusammen mit den Seitenstraßen ein untrennbares städtisches Ganzes: das "Neumarktgebiet". Ein Wiederaufbau, der seinem Charakter als Gesamtkunstwerk gerecht werden will, müßte unter folgenden Voraussetzungen in Angriff genommen werden:

Allein die Platzgestalt der Zeit nach dem Siebenjährigen Krieg kann die grundlegende Form für den Wiederaufbau bilden. Die historische Maßstäblichkeit des Gebietes muß gewahrt werden, wofür ein Zurückgreifen auf die historischen Häuserparzellen die ideale Grundlage bildet. Des weiteren wird es von entscheidender Bedeutung sein, den alten Grundriß einschließlich der alten, zum Platz hinführenden Straßenverläufe wiederherzustellen. Eine Verbreiterung oder gar Verschiebung der alten Straßenverläufe wäre von größtem Nachteil für die Raumwirkung des Platzes, was in gleicher Weise für die Straßenwände gilt, die unbedingt wieder geschlossen ausgebildet werden müssen. Wenn von der geforderten Rekonstruktion einiger sogenannter "Leitbauten" ausgegangen wird, so ist darauf zu achten, daß die sie einfassenden Häuser der Qualität der historischen Bebauung entspricht. Sie müßten als möglichst schlichte und zurückhaltende Putzfassaden ausgebildet werden, da sie sich nur so mit den unpathetischen Barockhäusern zu einer Einheit verbinden können. Postmodern verspielte, peinlich historisierende Fassaden mit für das ehemalige Platzbild untypischen Elementen (z.B. weit vorspringende Glaserker oder zweigeschossige Schaufensterfronten) sind abzulehnen. Die glatten, schön geformten Mansarddächer konnten nicht in Konkurrenz zu den zierlich geformten Glockentürmen der Frauenkirche treten. Dies wird auch die Dachlandschaft des Wiederaufbaus erfüllen müssen. Letztlich muß die gesamte Form- und Farbgebung des Platzes von dem Willen ausgehen, die Frauenkirche wieder eindeutig als Mittelpunkt des Neumarktes erscheinen zu lassen. Die Dokumentationslage für das Äußere der Neumarkthäuser muß als gut bis sehr gut eingestuft werden, so daß eine wissenschaftliche, denkmalpflegerische fundierte Rekonstruktion zu ungefähr 90% durchführbar wäre. Es muß hierbei sehr sorgfältig zwischen kunsthistorisch bedeutenden Gebäden, für die sehr exakte Dokumente (Fragmente, Fotografien, Aufmaße und Pläne) vorliegen, und den vielen schmucklosen Bauten aus der Zeit nach 1760 unterschieden werden. Diese städtebaulich wichtigen Bauten können auch in rein handwerklicher Ar und Weise unter Beibehaltung der alten Achs- und Geschoßzahl wiederhergestellt werden.
Der Neumarkt darf und muß nicht zu irgendeiner beliebig zu fül;lenden Freifläche innerhalb Dresdens werden. Es bietet sich hier die so nicht wiederkommende Gelegenheit, den Platz zusammen mit dem "Kuppelwunder" Bährs als Herz und geistige Mitte der Bürgerstadt Dresden wiederauferstehen zu lassen."

aus: Der Dresdner Neumarkt vom Ende des 18.Jahrhunderts bis zur Zerstörung (Auszug), in: Der Dresdner Neumarkt. Dresdner Hefte 44, 4/95

 

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