Ornament und Versprechen
    Was die neuen Tapeten, Muster und Schnörkel in Kunst und Architektur über unsere Zeit erzählen

    Neue Tapete: Elke Haarer "Giverny" 2002
    Elke Haarer mit ihrem Tapetenkunstwerk "Giverny" 2002
    Bildquelle: www.kunsthaus-nuernberg.de

    Muster (Definition laut: Duden): aus der Kombination von einzelnen Motiven bestehende (regelmäßige), sich wiederholende, flächige Verzierung


    Eine junge Künstlerin bekommt einen Preis für eine Papiertapete. Ein Architekturbüro wird berühmt mit einem Haus, das aussieht, als hätten es die Architekten nicht mauern, sondern stricken lassen. Was war passiert? Auf weißen Wänden sprießen plötzlich wieder Muster und Ornamente, als hätte es Adolf Loos nie gegeben, den großen Ornamentenfeind, der Anfang des 20. Jahrhunderts erklärt hatte, es mache "die größe unserer zeit aus, daß sie nicht imstande ist, ein neues ornament hervorzubringen. wir haben uns zur ornamentlosigkeit durchgerungen. die zeit ist nah, die erfüllung wartet unser." Loos, der das von Gründerzeitschnörkeln gebeutelte Volk durch die Fluten von Pilastern, Gesimsen, Halbreliefs, Puttengeflatter und Gurkengirlanden ins gelobte Land des Funktionalismus führen wollte: Loos haßte das Ornament so sehr, daß er seine Bergpredigt des modernen Geschmacks vorsichtshalber in kleinen Buchstaben schrieb, als wäre der große Buchstabe selbst schon ein dubioses Ornament der Sprache. Seitdem mieden Architekten durch alle Stilentwicklungen hindurch eindeutige Ornamente, als seien sie Teufelswerk. Zwar wagte es eine kleine Schar von postmodernen Querulanten, ein paar Loopings im Luftraum des guten Geschmacks zu drehen und ihre modernen Kisten mit Säulen und gesprengten Giebeln zu dekorieren - aber das war nur eine ironische Girlande, die bald wieder abgehängt wurde, um der "Neuen Einfachheit" Platz zu machen, die strenger, blutleerer und vor allem luxuriöser, als Loos es je gewollt hätte, den Kult formaler Reinheit zelebrierte. In ihr wurde das moderne Reinheitsgebot, hinter dem die soziale Utopie schöner neuer Architektur für alle steckte, zum luxuriösen Stil; keine Seidentapete war so teuer wie der Beton der Neuen Einfachheit.  
    Vielleicht ist es diese überfeinerte Reinheitsvision, die seit einiger Zeit in Kunst und Architektur erstaunliche Reaktionen provoziert: Künstler tauchen auf, die mit dem Verpöntesten schlechthin, mit Tapeten und Fassadenschmuck, nicht mehr ironisch, sondern ganz ernsthaft spielen - und die Kritiker in ein Interpretationsloch stürzen, aus dem sie kaum mehr herauskommen.  
    Zum Beispiel Tapeten. Sie waren schon immer die häßlichen Schwestern des Kunstwerks. Letztlich war das Fresko die letzte Form der Wandgestaltung, die es mit dem Tafelbild aufnehmen konnte; die Dekortapete war ihr kleinbürgerlicher Nachfolger, eine industriell hergestellte, billige Schwundstufe der künstlerischen Wanddekoration. Papiertapeten, ob sie nun abstrakte Kunst nachäfften oder rotglühende Sonnenuntergänge abbildeten, waren immer Zeugnisse uneingestandener Sehnsüchte nach etwas Besserem, nach den seidenbespannten Wänden der Paläste, nach geographisch und kulturell unerreichbaren Zielen. Nur eine kleine Stilavantgarde flüchtete Anfang der neunziger Jahre aus den weißen Räumen der Neuen Einfachheit - und fand mit einer Zärtlichkeit gegenüber den großen, lächerlich gewordenen Gesten der Vergangenheit, mit dem Gefühl, das Susan Sontag einmal als "Camp" bezeichnete, Gefallen an den schrillen Tapeten der frühen Siebziger.  
    Genau diesen Bruch im Stilbewußtsein reflektiert die Künstlerin Elke Haarer mit ihrem Tapetenkunstwerk "Giverny", das nur auf den ersten Blick an die muffige Tapetenidylle kleinbürgerlicher Wohnungen erinnert: Das Muster, das zunächst wie eine Abstraktion von Monets Seerosen aussieht, setzt sich aus Adidas-Symbolen zusammen; erniedrigte Hochkultur und veredelter Pop verschmelzen in der Adidas-Seerose zu einer neuen Ikone.


    Wohnhaus vom Büro Hild und K in Aggstall 2000

    Das Spiel mit dem Modischen und dem Demodierten, dem Strengen und dem Gemütlichen treiben auch die Münchner Architekten des Büros Hild und K. Sie bauten vor drei Jahren in Aggstall ein kleines Spitzdachhaus mit rautenförmig gemauertem Muster, das aussah, als hätte man ihm einen Norwegerpullover aus Steinfäden umgehängt. Kritiker und Kollegen waren verschreckt: Spitzdächer galten als Zeichen von Provinzialität, Muster auch. Obwohl deutlich geschmackswidrig, sah das Haus aber nicht bieder genug aus, um als Regionalkitsch abqualifiziert zu werden. Was also dann? Waren Dach und Fassaden ironisch, oder meinen die Architekten es ernst? Und war dieser nonchalante Ernst, mit dem da Muster in die Fassade gemauert wurden, am Ende doppelte Ironie: Nämlich die ihrerseits ironische Abkehr vom offensichtlich ironisch-historischen Zitatquark der Postmoderne?  


    www.hildundk.de - Berlin 1999 - Neuer Fassadendekor

    Während den Exegeten der Architekturszene noch die Köpfe rauchten, holten Hild und K zu weiteren Schlägen aus. In Berlin renovierten sie ein Haus der Gründerzeit, dessen Putz nach dem Krieg abgeschlagen worden war, auf besondere Weise. Die Originalzeichnung für das Fassadendekor wurde im Computer vergrößert; dadurch wurden die Linien unscharf und bröselig. Diese enorm vergrößerte, leicht unscharfe Zeichnung wurde per Laser aus einem Kunststoff geschnitten und durch eine Schablonenputztechnik auf die Hauswand übertragen. Auf der Fassade ist also eine vergrößerte Zeichnung zu sehen - die gleichzeitig Skulptur ist. Die Fassade ist ein Vexierbild: Das Dekor ist einerseits nur Projektion, andererseits - weil ins Material gefräst - auch dreidimensional; eine Reliefzeichnung, die zwischen Abbild und Original oszilliert, ein halbes Trompe-l'oeil, das die Vergangenheit in die Fassade zurückzaubert, ohne sie nachzubilden. Wie Gewächs wuchern die Zeichnungen über die einst geglättete Fassade und wirken wie ein neuer Jugendstil: Der Entwurf kriecht als Gewächs über den fertigen Bau.  
    Die Fassade ist die Rückkehr des Staunens und des Rätsels, der Architektur als Erzählung und Labyrinth im Stadtbild. Die Stucklabyrinthe der Gründerzeitbauten wirkten wie eine Metapher der chaotischen Verschränkungen und Entwicklungen der Biographien ihrer Bewohner. Das neue Spiel mit dem Dekor ist eine Abwehrreaktion auf jenen Reduktionismus, der als Neue Einfachheit etwa zehn Jahre lang Architektur und Design bestimmte. "Noch die ästhetisch hochgezüchtete Allergie gegen Kitsch, Ornament, Überflüssiges, dem Luxus sich Näherndes hat auch den Aspekt von Barbarei", schrieb Adorno in der "Ästhetischen Theorie"; mittlerweile ist die Allergie gegen den Kitsch des Ornaments selbst kitschig geworden: Der Versuch, alles noch reiner und weißer erscheinen zu lassen, noch härter und unsentimentaler, erfordert von Designern und Architekten stilistische Verrenkungen, die selbst enorm schnörkelig sind.  
    Der architektonische Minimalismus der Neunziger war ein Leerlauf der Moderne: Weil man nicht wußte, wie die Ästhetik der Gegenwart aussehen könnte, überfeinerte man die Ästhetik der klassischen Moderne, feilte an ihr herum, bis nichts mehr übrigblieb. Die kahlen Räume der Zweiten Moderne entsprachen in ihrer anämischen Farblosigkeit den gespenstisch dürren Supermodels, die, wie Kate Moss in der Reklame von Calvin Klein, im weißen Nebel des guten Geschmacks verschwanden.  
    Alles mußte rein, pur, "Purity" sein; die Ästhetik der Neunziger war so kaltweiß und blutarm, so dürr und überbelichtet, daß sie über kurz oder lang unsichtbar werden mußte. In dieses Nichts der Selbstauflösung stößt die Renaissance des Dekors. Auch Rem Koolhaas und Herzog & de Meuron entdecken in ihren Bauten den ornamentalen Reiz moderner Formen - darin sind sie Schüler von Oscar Niemeyer, der die Formen der Moderne schon in den Fünfzigern zu gigantischen Ornamenten verschmolz. Auch Hild und K führen bei ihrem soeben fertiggestellten Parkhaus in München-Riem vor, wie eine wellenförmige Betonfassade als modernes Ornament wirken kann. Die neue Opulenz verhält sich zum blutarmen Minimalismus der Neunziger wie der laute, zitatfreudige Pop der Sechziger zum erstarrten Modernismus der Nachkriegszeit. Die Geschichte wiederholt sich: Die Spuren an der Wand erzählen davon.  NIKLAS MAAK


    Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 26.10.2003, Nr. 43 / Seite 28

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