FAZ, 10. November 2005

Die Geschichte respektieren, nicht rekonstruieren

Die Diskussion um die künftige Gestaltung des Areals zwischen Dom und Römer hat sich in den vergangenen Wochen beschleunigt. Hatte die Frage, wie die Keimzelle Frankfurts nach einem Abriß des Technischen Rathauses in den nächsten Jahrzehnten aussehen solle, zunächst fast nur jene Architekten interessiert, die sich an einem städtebaulichen Ideenwettbewerb beteiligten, so nimmt inzwischen ganz Frankfurt Anteil. Die Parteien überbieten sich geradezu gegenseitig in ihrem Engagement, und es spricht manches dafür, daß das Thema im bevorstehenden Kommunalwahlkampf eine herausragende Rolle spielen wird.

Eine Diskussion, zu der diese Zeitung für Mittwoch abend in ihr Redaktionsgebäude eingeladen hatte, diente in der fast schon aufgeheizten Stimmung jener "Versachlichung", die sich Evelyn Brockhoff, die Leiterin des Instituts für Stadtgeschichte, zu ihrem Beginn erhofft hatte. Weder die beiden Architekten in der Runde, Albert Speer und Christoph Mäckler, noch Planungsdezernent [...] Schwarz (CDU) verweigerten sich dabei dem Gedanken, daß es angebracht sei, bei einer Neubebauung dieses Gebiets auch dessen Geschichte zu berücksichtigen. "Ich habe nichts gegen eine bauliche Anknüpfung", äußerte Speer, und fast wortgleich meinte Mäckler, "wir müssen den Sprung schaffen und anknüpfen an die Geschichte vor dem Dritten Reich".

Einigkeit herrschte aber ebenso darin, daß eine hundertprozentige Rekonstruktion der Altstadt, die aus einer Vielzahl kleiner Häuser bestand, die sich dicht drängten, nicht möglich sei. Brockhoff wies darauf hin, daß die Altstadt vor ihrer Zerstörung im Krieg keineswegs in einem guten Zustand gewesen sei. Schon im 19. Jahrhundert habe sich das Geschäftszentrum nach Norden, vor allem an die Zeil, verlagert, und jeder, der es sich habe leisten können, sei aus dem Gebiet zwischen Dom und Römer weggezogen. Nach Anfängen in den zwanziger Jahren hätten erst die Nationalsozialisten mit Sanierungsarbeiten in dem Viertel begonnen, doch sei dieses Vorhaben wegen des Kriegsausbruchs steckengeblieben. "Die Altstadt war ein absoluter Sanierungsfall." Doch selbst wenn man über die Frage hinwegsähe, welcher historische Zustand als Vorbild für eine Rekonstruktion zu nehmen wäre, blieben Schwierigkeiten. Denn, so führte Brockhoff weiter aus, die Häuser standen auf kleinen Grundstücken, die Räume waren gerade einmal zwei oder 2,30 Meter hoch, getrennt waren die Häuser nur durch Gassen, Plätze fehlten weitgehend. "Eine komplette Rekonstruktion kann ich mir nicht vorstellen", meinte die Historikerin, "weil niemand heute so leben möchte."

Speer fügte hinzu, daß eine derartig großräumige Rekonstruktion schon am Brandschutz und an modernen Abstandsregelungen scheitern würde. "Was ich für Schwachsinn halte, ist, die alte Fachwerkarchitektur wieder aufzubauen." Auch Schwarz meinte, "ich glaube, wir können die Altstadt nicht eins zu eins rekonstruieren". Zu den schon von Brockhoff und Speer genannten Argumenten fügte er an, daß die Räume im Erdgeschoß wegen der engen Gassen schlicht zu dunkel würden. Hinzu komme, daß es gar nicht möglich sei, in derartigen Häusern moderne Grundrisse und Treppenhäuser unterzubringen. Dresden sei in dieser Hinsicht nicht vergleichbar, denn dort werde eine barocke Stadt wieder aufgebaut, die aus weitaus größeren Häusern bestanden habe. Die Frankfurter Altstadt aber sei gotisch gewesen.

Einen Kompromiß zwischen einem völligen Verzicht auf historische Bezüge einerseits und einer vollständigen Rekonstruktion andererseits zeigte Mäckler auf. In Dresden, das für den Wiederaufbau der Frauenkirche derzeit gerühmt werde, habe man sich beim Neumarkt entschieden, den historischen Stadtgrundriß als Grundlage zu nehmen, außerdem sei eine Gestaltungssatzung erlassen worden. Schließlich gebe es für jeden Block ein "Leithaus", das aufgebaut werde wie ehedem. Für Frankfurt bedeute dies, zwar nicht generell Fachwerkhäuser zu bauen - "aber vielleicht das eine oder andere schon". Ein ähnliches Vorgehen skizzierte Schwarz. Die einstigen Wege sollten eine Vorgabe sein, über die Gestaltung der einzelnen Teile des Areals - der Planungsdezernent sprach von Feldern - solle später entschieden werden. Dabei müßten "der damaligen Zeit entsprechende Häuser in moderner Architektur" akzeptiert werden. Dabei denkt Schwarz vor allem an Steinfassaden.

Der Gedanke, sich zumindest am historischen Grundriß der Altstadt zu orientieren, gefiel auch Speer. Wenn er sich gegen eine vollständige Rekonstruktion ausspreche, meine er damit keineswegs, daß man sich nicht mit der damaligen Struktur des Viertels auseinandersetzen solle, äußerte der Architekt. Die Stadt solle sich mit ihrer Geschichte befassen, aber auch überlegen, was an diesem Ort im 21. Jahrhundert angemessen sei. So gehe es darum, mehr Wohnraum in der Innenstadt zu schaffen. Man dürfe bei der Debatte nicht nur auf das Areal am Dom blicken. Wichtig sei auch, dieses Quartier besser an die Innenstadt anzubinden, über die trennende Berliner Straße hinweg. Auch Brockhoff sprach sich dafür aus, den alten Grundriß der Straßen und Plätze in groben Zügen wieder aufleben zu lassen.

Skeptisch äußerten sich alle vier Teilnehmer der Diskussion, die von Günter Mick, Ressortleiter der "Frankfurter Allgemeinen/Rhein-Main-Zeitung", moderiert wurde, zu der gegenwärtigen Debatte in Frankfurt. Brockhoff forderte, es müsse auch darüber gesprochen werden, was das Vorhaben koste. Speer rief in Erinnerung, daß die gegenwärtige Gestaltung immerhin durch den ersten frei gewählten Oberbürgermeister nach dem Zweiten Weltkrieg, Walter Kolb, festgelegt worden sei. Brockhoff erinnerte daran, daß über die Gestaltung dieses Viertels schon seit 1945 geredet werde. Sie kündigte an, daß das Institut für Stadtgeschichte im Februar eine Ausstellung zur Altstadt-Historie und zur Altstadt-Debatte nach dem Zweiten Weltkrieg eröffnen werde.

Die Historikerin gab zu bedenken, daß es nur wenige bauliche Zeugnisse der Frankfurter Geschichte gebe. Allerdings träfen sich in diesem Viertel verschiedene historische Ebenen. Der Archäologische Garten sei dort, wo früher mit der Goldenen Waage eines der bedeutendsten Altstadthäuser gestanden habe. Die Reste aus früheren Epochen zugunsten einer Rekonstruktion des Fachwerkhauses zuzuschütten lehnte sie ab. Hier widersprach Mäckler; die Goldene Waage sei wichtiger.

Das Interesse der Frankfurter an ihrer Geschichte führte auch Mäckler als Argument dafür an, die Vergangenheit bei der Planung zu berücksichtigen. Die Politik müsse ernst nehmen, was sich die Gesellschaft wünsche. Auch die Frauenkirche in Dresden sei wieder aufgebaut worden, "weil wir unsere Geschichte ausradiert haben". Es gebe aber ein Bedürfnis nach Heimat. "Die Bevölkerung möchte gerne ein Zentrum haben, das mit Geschichte verbunden ist. Aber das heißt nicht, daß wir das komplett wieder aufbauen."

Unklar blieb in der Diskussion, wie das Viertel in Zukunft genutzt werden soll. Das zu klären müsse Priorität haben, meinten Brockhoff und Speer. Planungsdezernent Schwarz wies darauf hin, daß derzeit mit dem Technischen Rathaus auf ungefähr 5000 Quadratmetern eine Baumasse von 30 000 Quadratmeter Nutzfläche konzentriert sei. Künftig sollten es 10 000 Quadratmeter weniger sein; wenn der Archäologische Garten einbezogen werde, etwas mehr. "Ökonomische Gründe dürfen nicht außer acht gelassen werden", meinte der Unionspolitiker, "aber sie dürfen nicht primär bestimmend sein."

Der Politiker machte aber deutlich, daß zumindest er auch das große Interesse der Bevölkerung an einem Wiederaufleben der Geschichte in seinem Herzen bewegen will. "Ich bin ein bißchen auf vox populi angewiesen, ohne populistisch zu sein." Daß diese Gratwanderung nicht leicht sei, rief ihm wiederum Mäckler in Erinnerung. "Die Politik steht mit dem Rücken an der Wand", meinte der Architekt, "weil die Bevölkerung keine Lust mehr hat an der Architektur, die selbstverliebt Kisten hinstellt."

Schwarz kündigte an, im Januar, also vor der Kommunalwahl, eine Magistratsvorlage zu präsentieren. Darin will er seinen Vorschlag für das städtebauliche Konzept unterbreiten. "Das können die Stadtverordneten dann ablehnen oder annehmen." Er wies darauf hin, daß es erst danach Realisierungswettbewerbe gebe, in denen über die Architektur entschieden werde. Eine Bürgerbefragung beurteile er skeptisch. Für die Anregung Mäcklers, auch Mittelständlern Parzellen zur Verfügung zu stellen, um eine kleinteilige, vielfältige Bebauung zu erhalten, zeigte sich Schwarz aufgeschlossen. Er stimmte auch der Forderung zu, die Gestaltungsfreiheit der Bauherren und Architekten durch klare Vorgaben der Stadt einzuschränken.
Quelle:
http://www.faz.net