Tabula rasa im
Untergrund Als eine hochrangig
besetzte Jury am 23. Oktober 2002 im Großen Saal der Johanniskirche
in Magdeburg die Preise des "Bundesweiten Wettbewerbs 2001-2002" überreichte,
da wurde auch die Stadt Magdeburg selbst geehrt: "Überzeugend gelungen
ist, die große historische Vergangenheit durch archäologische Freilegungen
sichtbar zu machen und damit zur Imageverbesserung der Stadt beizutragen,"
begründete das Gremium die Zuerkennung einer Silberplakette in der Konkurrenz
"Leben in historischen Innenstädten und Ortskernen - Zukunft für urbane
Zentren und Räume." Denn hier geschieht gerade das Gegenteil. Hier hat die Landesarchäologin Judith Oexle den komplett erhaltenen Kellern am Neumarkt, also dem Letzten, was im Kernbereich von der untergegangenen Stadt Dresden erhalten geblieben ist, die Denkmalwürdigkeit aberkannt. In der Konsequenz heißt dies, daß die für die Konservierung von unterirdischen Denkmalen zuständige Amtsleiterin ihren Segen dazu gibt, die einzigen authentischen Zeugnisse, die von der Altstadtbebauung im Neumarktbereich übrig geblieben sind, auszubaggern, so wie es bereits mit den Kellern an der Webergasse geschehen ist, also das Gedächtnis der Stadt wie eine Festplatte zu löschen. Man muß sich fragen, vor welchem Erfahrungshintergrund und welchem Geschichtsverständnis diese Stellungnahme abgegeben worden ist. Dresden, das mit einem Todesareal von 15 Quadratkilometern ein Ausnahmeschicksal im Zweiten Weltkrieg wie Hiroshima erlitten hat, dessen Ausgrabungsstätten Archäologen aller Kontinente angezogen haben, weil jeder Stein, jede Scherbe von diesem Schicksal, das zu den Menschheitskatastrophen des vergangenen Jahrhunderts zählt, kündet, weil sich an der Verfärbung der Gewölbewände noch heute dieTemperaturen von einigen tausend Grad ablesen lassen, die in diesen Todesfallen in den Stunden des Feuersturms geherrscht haben: dieses mitteleuropäische Pompeji soll auf Tieflader gekippt und auf den Müll gefahren werden? Unwillkürlich drängt sich eine unselige Erinnerung auf. Der letzte, der so verantwortungslos war, die Vergangenheit dieser Stadt pauschal in Frage zu stellen, war der Oberbürgermeister Walter Weidauer. Vor der Geschichte macht er eine erbarmungswürdige Figur. Verheerend sind die Folgen der fachlichen Stellungnahme für die Wiederaufbaupläne am Neumarkt. Denn damit gehen den Investoren Fördermittel für die Erhaltung der Keller verloren. Gleichzeitig wird dem Wiederaufbauplan des Neumarktensembles auch aus denkmalpflegerischer Sicht buchstäblich das Fundament entzogen: Gibt man die Keller preis, werden die Leitbauten zu bloßen Attrappen. Hier ist auf Vergleichsbeispiele zu verweisen wie etwa das Schloß in Berlin. Dort wurden selbst banale Heizungskeller freigelegt, um den Wiederaufbau auf exakt diesen authentischen Stümpfen vorzubereiten. Oder die Städte Elbing in Westpreußen und Stettin am linken Ufer der Oder: Hier haben polnische Stadtplaner die Fundamente der von Bulldozern abgeräumten Altstädte ausgegraben und sorgfältig stabilisiert, um auf diesen Mauerresten in akkurat derselben Parzellierung neue Altstadtquartiere zu errichten, die die geschichtlinien Lebenslinien dieser einst deutschen Städte nachzeichnen. Am Neumarkt geht es um nichts anderes. Die Zeugnisse des alten Dresden werden dringend benötigt - und zwar einschließlich des authentischen Pflasters und der Gehwegplatten -, um die Reste städtischer Identität zu sichern und das ehrgeizige und vorbildlose Vorhaben der archäologischen Rekonstruktion der Frauenkirche und von Teilen des Neumarktes sachgerecht, und das heißt künstlerisch wie auch wissenschaftlich angemessen, zu vollenden. Dresden hat die einmalige Chance, um die viele deutsche Städte das einstige Elbflorenz heute beneiden: in einer groß angelegten flächenhaften Aufbauleistung ein Stück Identität zurückzugewinnen - also Eigenschaften, die einmal die Bedeutung und die Einzigartigartigkeit dieser Stadt ausgemacht haben. Dies ist nicht nur aus künstlerisch-städtebaulichen oder historisch-konservatorischen Gründen geboten, sondern auch aus den elementaren ökonomischen und politischen Überlebensinteressen der Stadt. Die Chipfabriken sind nicht nach Dresden gekommen, weil Dresden über Plattenbauten, Gewerbegebiete, Wasserwerke und Mülldeponien verfügt. In der beinharten Konkurrenz der Metropolen im zusammenwachsenden Europa haben nur diejenigen Städte eine Chance, die ihre Unverwechselbarkeit zu bewahren und zu entwickeln wissen. Dresden, das sein Gesicht angesichts der riesigen Neubauaufgaben zwischen Hauptbahnhof und Albertplatz, zwischen Gruna und Cotta noch völlig wandeln wird, hat es dabei - wie der Vergleich mit Leipzig zeigt - schwerer als andere Städte. Das neue Dresden wird eine hoch moderne, chrom- und glasblitzende Stadt mit Fassaden von klirrender Kälte und niederschmetternder Banalität sein. Es muß das wenige, was sich aneigenständiger gewachsener Substanz festhalten oder zurückgewinnen läßt, wie einen kostbaren Schatz hüten und verteidigen.
Text: ca. Ende 2002
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