Architektur Zentrum Wien - 02.bis 05.11.1995
    3. Wiener Architektur Kongress: zum Thema Chaos und Städtebau

    Zusammenfassung der Referate:
    Gemeinplätze - Conventional Thoughts im CHAOS EUROPA

    Quelle: http://www.azw.at/kongress/de/10005/10005_zusatz2.htm

    Wenn die Gesellschaft, wenn die Architektur keinen allgemeinen stringenten Linien mehr folgen kann, leben wir dann im Chaos ? "Der Faden ist gerissen", so das Motto von Ullrich Schwarz, den deutschen Architekten Hans Kollhoff zitierend, in seiner Einführung zum Thema "Die Zeit der Architektur". Der Argumentationsnotstand der Architektur liegt schamlos vor uns, die Legitimationskrise ist unübersehbar. Dies sind nur einige Charakteristika zum Zustand der zeitgenössischen Architektur seit den 80er Jahren. Beliebigkeit, Zynismus und das Nachlassen eines Reflexionsimpulses - droht der Architektur die kulturelle Bedeutungslosigkeit? "Light Architecture" rät Rem Koolhaas. Moderne heisst für Jürgen Habermas, auf sich selbst gestellt sein. Die Konsequenz daraus ist für Ullrich Schwarz eine Architektur, die aus sich selbst schöpft, eine "Architektur an sich".

    Einer der bedeutendsten Vertreter dieser "Architektur an sich", eine Architektur, die keine Parallel-Szenarien braucht, ist der New Yorker Architekt Peter Eisenman. Seine Architektur stellt den Versuch einer "nachmetaphysischen Architektur" dar, einer Architektur, die sich auf nichts stützen kann, weder auf die Natur noch auf die Geschichte.
    Die "Präsenz der Absenz" wird für Eisenman zum Leitmotiv, die von ihm geforderte Veränderung von aussen für die Architektur zum Überlebensprinzip. Bereits in seinen frühen Arbeiten hat Eisenman versucht, die Architektur von der Bedeutung zu befreien. Ab Mitte der 80er Jahre, nach der ersten Auseinandersetzung Eisenmans mit dem französischen Philosophen Jacques Derrida und dessen Kritik am Logozentrismus gibt er auch die Idee eines essentiellen Subjekts zugunsten eines textuellen Subjekts und zugunsten einer textuellen Architektur auf.
    Kein Apriori steht am Beginn des architektonischen Prozesses. Eisenman selbst spricht vom "Ende des Anfangs". Genauso wie Aprioris und Subjekt in Frage gestellt werden, stellt er auch die stabile Identität des Ortes, des Topos in Frage: Architektur ist nicht länger ein zielorientierter Prozess, sondern unvorhersehbar. Als Ort der Erfindung wird Architektur zum Text ohne rekonstruierbares Bedeutungszentrum. Einher geht dieser Prozess mit der Anerkennung des Dissonanten, ein Punkt an dem auch die niederländische Theoretikerin Liane Lefaivre mit ihrer Analyse des "Dirty Realism" anschliesst.
    Eisenman geht es um das "In Between", wie er es nennt. Eine Architektur des Ungewissen bedeutet den für ihn notwendigen Zuwachs an Freiheit.
    Da sich die Architektur nicht mehr an stabilen Ordnungsmustern orientieren kann, benötigt sie neue Vorstellungen von Materie, Raum und Zeit, eine Forderung, die dem Betrachter aus der modernen Physik und Mathematik bekannt sein muss: dem Paradigmenwechsel der Architektur ging der bekannte Paradigmenwechsel in der Naturwissenschaft, dass die Natur doch "Sprünge macht" voraus.
    Das Ende der Linearität bedeutet, dass das System dynamisch, selbstorganisierend wird. Der Zufall wird zu dem bestimmenden Faktor im Prozess. Ein Phänomen, das in der Mathematik unter dem Thema der Chaostheorie abgehandelt wird. Architektur als "unplanbare Singularität", als "Akt des Exzesses", als "unbegründbare Tiefe", so die Motive von Peter Eisenman.

    Das Paradigma der Harmonie, insbesondere der Harmonie mit der Umwelt, dem Umfeld war lange Zeit bestimmender Bestandteil der Architektur. Der "Eintritt in die Wildnis" sollte als "Symbiose" verstanden sein, die Morphologie des Gebauten der Geologie der natürlichen Ordnung entsprechen. Was aber geschieht, wenn die Umgebung keinen positiven Kontext aufweist.
    Was geschieht, wenn der Kontext ein Friedhof der Urbanität ist, ausgebombte Hüllen, wenn Chaos die Botschaft ist in einer verwüsteten Landschaft der städtischen Megamaschinen? Woran sich also orientieren? Am Chaos des Zerfallenen, am Chaos der verwüsteten Stadt? So die Fragen von Liane Lefaivre. Enttäuscht von der postmodernen Flucht aus dem Realismus wandten sich Architekten wie Rem Koolhaas, Jean Nouvel, Renzo Piano, Enric Miralles und Carmé Pinos, ihre amerikanischen Kollegen Frank Gehry und Eric Owen Moss wieder dem Realismus zu, einem "Dirty Realism". Ihrem Plan entspricht eine Ästhetik der Rauheit, eine Fragmentierung, das bewusst Setzen von Kontrasten zu einer verwahrlosten Umwelt. Dem Kontextualismus kommt ihrer Meinung nach eine neue Bedeutung zu, die der Entfamilisierung des Kontextes.
    Wie ein Zyklon wird die Architektur über das Vertraute hinauswachsen, fasziniert von der Anziehungskraft des Negativen, des Schroffen, des Rohen und Unfertigen. Solche Faszination findet Liane Lefaivre bereits in der Renaissance, im Begriff des "non-finito", in den Grotesken und in der Faszination von Steinformationen, in der Romantik in Ruskins Liebe zu Ruinen und im späten 19. und beginnenden 20. Jahrhundert in der Begeisterung für das Mechanische, der Industrie als Quelle neuer Anziehungspunkte.

    Dem Chaos der Stadt stellt der amerikanische Mathematiker und Chaosforscher Ralph Abraham das mathematische Chaos gegenüber. Der Paradigmenwechsel in der Wissenschaftsgeschichte war geprägt vom Abschied der linearen, starren Systeme. Die mathematischen Modelle reichten nicht mehr aus, die Komplexität der Natur zu erklären.
    Mit der Chaostheorie findet die Sprache der Natur wieder Eingang in die Mathematik, die sich mit der modernen Mathematik von der Natur lösgelöst hat, so Ralph Abraham. Provokant seine These, dass sich die Architektur der Zukunft in dynamischen Systemen bewegen muss. Er fordert die Ablösung der Euklidschen Geometrie als geheiligte Theroie der Architektur durch die fraktale Theorie.

    Chaos ist für Otto E. Rössler, Professor für theoretische Biochemie, ein selbstreferentieller Begriff. Spricht man den Begriff aus, so hat man ihn bereits gebannt. Als Naturwissenschaftler fragt er nach den Möglichkeiten einer Rückführbarkeit des Chaos.

    Wir haben die Ordnung gesucht und das Chaos gefunden, so die Erkenntnis des italienischen Architekten Stefano Boeri. Satelliten haben eine globale Sicht gebracht, aber gleichzeitig nahm auch die Unschärfe zu, wir sehen nichts mehr. Die Entzifferung des urbanen Chaos wurde zur Aufgabe der Architekten. Boeri fordert die Einführung von eklektischen Atlanten, die die diversen Schichtungen wiedergeben.

    Das Chaos und das Drama der Stadt ist für den Autor und Kritiker Dzevad Karahasan der dramatische Marktplatz. Die Geburt des Dramas und somit die Ablösung des epischen Liedes sieht er in der Geburt der Städte. Der Marktplatz ist für ihn durch das Aufeinandertreffen verschiedener Identitäten dramatisch. Diese dramatische kulturelle Vielfältigkeit der Stadt wird durch die Vermittlung des Marktplatzes zur Ganzheit, was er eindrucksvoll am Beispiel Sarajevos demonstriert.

    Doch können die europäischen Städte diesen Anspruch noch gerecht werden? Verkommen sie nicht zu leere Hüllen für den Massentourismus? Einen Vergleich zwischen Disneyland und der Stadt Luzern stellt der Schweizer Kunsthistoriker Stanislaus von Moos an. Der Rückbau der Stadt zur touristischen Attraktion, zum Freizeitpark, mit internationalen Shoppingmalls und einigen historischen Appliqués, die der Attraktion dienen, ist für ihn typische Botschaft des "Disney-Syndroms" in Städten wie Luzern und Venedig.

    Der Tourismus hat die Städte neugemacht: Jeder der sich mit den Problemen der Stadt beschäftigt, muss sich auch mit Tourismus beschäftigen, wie der amerikanische Kulturwissenschaftler Richard Ingersoll. Die modernen Städtezentren sind nur symbolisch, denn ihre Bewohner werden zu Touristen. Vor allem in einigen Grossstädten Amerikas wie Houston lässt sich eines feststellen: die Strassen sind leer. Wo spielt sich das Leben also ab, wenn nicht in der Stadt? Ein neues Lebensprogramm für die Stadt fordert Richard Ingersoll.

    Das Drama der modernen europäischen Städte erkennt der deutsche Kritiker und Journalist Michael Mönninger vor allem in der räumlichen Zerstreuung. An Stelle einer Urbanisierung wurde eine Verländlichung betrieben, so sein Resumee.
    Dieser anti-urbane Vernichtungsfeldzug hat den letzten Rest an Architektur genommen, gebaut wird hauptsächlich nur mehr am Stadtrand. Deutschland eine Streusiedlung, wie sie uns aus der Dritten Welt bekannt sind, allerdings in Luxusausführung? Folgen dem Siedlungswildwuchs und der Landschaftszerstörung die politische Balkanisierung? - Die gesetzlich geregelten Baurechte untersagen, so Mönninger weiter, eine Verdichtung der Stadt. Die Panik vor Verdichtung, die Ideologie von einer "aufgelockerten Stadt", dieser politische Wahnsinn mit Methode, lässt kaum ein intelligentes Projekt zu.
    Anders die Megastadt Tokyo: Tokyo ist für Mönninger die postmoderne Stadt: instabil und kurzlebig. Die totale Ausbeutung der räumlichen Verbauung wird betrieben, Architektur zum Nulltarif in einer Stadt, die alle 20 Jahre neu entsteht. Ein wucherndes Rhizom nach Gilles Deleuze. Die totale Verdichtung garantiert aber den für jede Stadt lebenswichtigen Zuwachs an Informationen, an soziologischer Information. Und so Mönnigers These: Die Rückkehr zur Verdichtung wird für die europäische Stadt zur Existenzfrage, denn nur Begegnungszwänge garantieren die notwendige soziologische Information.

    Am Punkt der Berührung und Begegnung setzt auch der bekannte amerikanische Soziologe Richard Sennett an. Ist der Mangel an physischer Verknüpfung Grund für das Chaos der Städte? Die Angst vor körperlichen Kontakten, der Verlust des Verständnisses für den Körper ist das Charakteristikum unserer Gesellschaft seit der Aufklärung. Die Architektur muss als Beitrag zu diesem körperlichen (Un-) Verständnis verstanden werden. Mehr und mehr Zäune schaffen Trennungen. Die Angst vor körperlicher Berührung lässt sich auch in der Städteplanung ablesen. Ein wichtiger Faktor spielt dabei die Geschwindigkeit. Das "Am Ort sein" wurde abgelöst durch die "Bewegung im Raum" als Flucht.
    Bestes Beispiel dieser Entwicklung ist für Richard Sennett das von Haussmann geplante moderne Paris. Haussmanns Ideen sehen eine eindeutige Schwächung des Zentrums vor, erörtert wird von Haussmann vor allem die Frage, wie die Stadt verlassen werden kann. Nicht benutzer-freundliche Städte, sondern Städte und Architektur die Anregung, Erregung geben, so Sennetts These. Die architektonische Frage muss also lauten:

    Wie können wir ein Umfeld schaffen, das die Menschen mehr anregt, wie können wir urbane Welten schaffen?
    Dass jeder Bewohner sich seine eigene Stadt schafft, beweist Michael Rutschky in seinem autobiographische Essay über die geträumte Stadt in der wirklichen Stadt.

    Nach dem Chaos Stadt das Chaos Europa: Pessimistisch die Erkenntnis des französischen Denkers Michel Korinman nach seiner geopolitischen Analyse Europas. Aus geopolitischer Sicht ist - so seine These - eine Integration Osteuropas in das westeuropäische Staatengefüge auszuschliessen. Zu viel trennt Osteuropa von Westeuropa, und dabei steht nicht nur der ökonomische Markt im Vordergrund.

    Eine Sonderstellung auf der geopolitischen Landkarte Europas nimmt für den Politikwissenschaftler Angelo Bolaffi Italien ein. In Italien fand die Aufhebung des Gegensatzpaares Ordnung und Unordnung Einzug in das Alltagsleben. Das katholische Italien braucht, so Bolaffi, eine ethische Revolution, ein Stück Protestantismus zur politischen Reformation.

    In einer Reise durch die spanische Architektur der letzten 20 Jahre demonstrierte Luis Fernández-Galiano wie Spanien zur "Normalität" gefunden hat, eine Normalität die auch das Triviale und das Simulacrum miteinschloss. Vielleicht besteht die Paradoxie darin, dass Spanien mit dem Schub der Moderne auch die Zukunft aus den Augen verlor. Auch im architektonisch boomenden Spanien - so Luis Fernández-Galiano - ist gute Architektur in der Minderzahl.

    Für was ist also Chaos der Schlüssel? Ist die Architektur des Chaos, der Unvorhersehbarkeit, so wie sie von Peter Eisenman gefordert wird, der Schlüssel zu den Problemen, denen sich die Architekten heute stellen müssen, fragte Richard Ingersoll in der abschliessenenden Diskussion. Widersprüchlich ist für ihn auch Richard Sennetts Sorge über die Unfähigkeit der Architektur Erregung zu schaffen, ist doch die Architektur ständig mit dem Vorwurf konfrontiert, nicht bequem genug zu sein.

    Was der Architektur vielmehr fehlt, so Ingersoll, sind Lebensprogramme, die Verknüpfungen schaffen. Verknüpfungen zwischen den Funktionen, zwischen dem Leben. Die Architektur der Peripherie ist eine leere Hülle, weil sie keine Verknüpfung schafft. Im Zentrum hingegen sind die Stadtbewohner zu Touristen geworden.
    Was muss der Architekt heute sein? Kritiker? Sozialreformer? fragt Luis Fernández-Galiano.
    Es kann nicht sein, so Ingersoll weiter, dass die Menschen das Gefühl vermittelt bekommen, sie müssten ein Gebäude "ertragen".


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