Prof.
Thomas Will :
Die jüngeren und aktuellen Bemühungen um die Wiederbelebung der Städte zeigen ein vergleichbar breites Repertoire, aus dem ich hier - im Bezug auf unser Thema - nur noch die "rekonstruktiven" Tendenzen anführen möchte: Grundmuster des 2. Wiederaufbaus/ Renaissance der "europäischen Stadt" (achtziger Jahre bis heute)
Diese Positionen scheinen allerdings unter Architekten derzeit kaum mehrheitsfähig, sind zumindest höchst umstritten. Fast erinnert die gegenwärtige Situation an die ideologische Polarisierung in den 20er und in den 50er Jahren: - die einen (und es sind, wie damals, nicht die schlechtesten Architekten) sehen in den Bemühungen um die traditionelle europäische Stadt nur die letzten Zuckungen einer bereits vor 100 Jahren verabschiedeten, zwar ehrwürdigen, aber überlebten statisch-ästhetischen Stadtidee; - die anderen erkennen darin die Selbstheilungskräfte der europäischen Stadt als eines zeitlos gültigen Modells zivilisierter und auch ökologisch bewährter Raumorganisation. (Der "Weltbericht" zur Lage der Städte hat kürzlich die dichten europäischen Zentren als in positivem Sinne "reife Städte" charakterisiert, die allerdings in Gefahr stünden, an der Überalterung ihrer Bau-, Wirtschaft- und Sozialsysteme zu verkümmern.) Angesichts der Polarität solcher städtebaulicher Diagnosen, die sich gegenseitig auszuschließen scheinen, müssen wir für die uns hier gestellte Aufgabe zweierlei Einschränkungen machen: 1. Die Stadt Dresden hat sich generell und im Besonderen im Fall des Neumarkts bereits für die zweite Sichtweise entschieden, für das Leitbild der kompakten, raumbetonten Stadt in der Tradition des vormodernen Urbanismus. Es handelt sich dabei nicht um eine nostalgisch motivierte Entscheidung. Sie ist eher pragmatisch und vorsichtig optimistisch, vor allem aber durch die eigene schwierige Erfahrung mit idealistischen oder visionären Stadtmodellen geprägt. Die in diesem Leitbild mitschwingende Idee, das Stadtzentrum könne bald oder jemals wieder "fertig" werden, zeigt allerdings, dass es sich erneut um ein Idealbild handelt, das schon heute nicht mehr als ganz realistisch einzustufen ist. Am Neumarkt berührt dieses Vorhaben die Frage nach der Rekonstruierbarkeit eines fast nur noch in Erinnerungs- und Abbildern überlieferten Werks der Stadtbaukunst, das aus weit über 100 Einzelbauten über Jahrhunderte entstanden war. Zunächst aber steht das Vorhaben unter dem viel grundsätzlicheren Thema: Wie kann unter heutigen Bedingungen ein dichtes und kleingliedriges, im traditionellen Sinne funktionierendes Stadtzentrum neu erbaut werden? (Das ist, auf der grünen Wiese, auch das Anliegen des New Urbanism). Auch hier geht es - wie eingangs für solche Wiederbelebungsversuche geschildert - nicht um das Arbeiten in einer Tradition (die existiert seit mindestens einem Jahrhundert nicht mehr), sondern um den Versuch einer Neubegründung. 2. Damit der Wunsch nach städtebaulicher Rückgewinnung des Neumarktgebiets Früchte tragen kann als Gewinn für die Gesamtstadt, müssen die Erfahrungen mit dem Vorbild berücksichtigt werden, also mit jener "traditionellen europäischen Stadt", von der heute, angesichts ihrer fortschreitenden Auflösung, so viel die Rede ist. Dazu gehört natürlich das wehmütig stimmende Studium ihrer dahinschwindenden - oder verlorenen - künstlerischen Qualitäten. 2 Dazu gehört aber ebenso - und das entgeht dem verklärenden Rückblick allzu leicht - die nüchterne Anerkennung, dass diese Stadt schon vor 100 Jahren in eine dramatische Krise geraten war, auch das "alte Dresden". Eine Krise, die das Aufkommen der stadtzerstörerischen Visionen der Moderne ja erst möglich gemacht hat. Mehr noch: Es waren ausnahmslos die von uns heute so geliebten alten europäischen "Kulturstädte", aus denen die totalitären oder nihilistischen Neuordnungsversuche der Gesellschaft und der Stadt hervorgegangen sind, und nicht die "kulturlosen" dynamischen Stadtagglomerationen der Neuen Welt, auf die der europäische Bildungsbürger seit je verächtlich herabzublicken beliebt. Es gilt anzuerkennen, dass die polemischen Stadtvisionen eines Mies, Taut oder Hilberseimer nicht Ausgeburten individueller Hybris waren, sondern die radikalste Veranschaulichung eines durch alle Lager reichenden Überdrusses an dieser bedrückend und düster gewordenen alten Stadt. Auch aus dem Dresdner Neumarktgebiet waren zur Zeit der Jahrhundertwende nahezu alle Besitzer und wohlhabenden Bewohner fortgezogen. 3 Ziemlich bedenkenlos hatte man bereits eine Reihe alter Bauten durch ganz anders geartete Neubauten ersetzt. Man war sich einig - von den Verfechtern des Heimatschutzgedankens (in Dresden z. B. Hans Erlwein) bis zu den internationalistisch gestimmten Anhängern der Technik und der Weltwirtschaft (Peter Behrens, Deutscher Werkbund), dass diese kranke Stadt, der Moloch, das "Dickicht der Städte", von Grund auf reformiert werden müsse - es sei denn, man gab ihr ohnehin keine Chance mehr (kulturpessimistische oder utopische Positionen von Howard über Spengler bis zum russischen Desurbanismus). "Aus grauer Städte Mauern" zog es die Überdrüssigen damals hinaus. Die Erbauung der Gartenstadt Hellerau bei Dresden war ein konkretes, von vielen Hoffnungen begleitetes Ergebnis dieser Stadtkritik. Es gilt auch anzuerkennen, dass die radikalen Vorschläge zur Stadtbaureform jener Zeit (und auch des Wiederaufbaus) in weiten Teilen durch soziales oder künstlerisches Verantwortungsbewußtsein geprägt waren. Wenn man ihnen einen pauschalen Vorwurf machen kann, dann den: dass sie an absolutistischen Ordnungsprinzipien festhielten, (indem sie die fürstliche Planungsautorität durch den Führungsanspruch der Avantgarde mit ihrem "fortschrittlichsten Bewusstsein" ersetzten). Unseren Wünschen nach einem Wiedergewinn des ästhetisch hochrangigen Gebiets am Neumarkt als ein in der Geschichte verankertes, schönes und brauchbares Zentrum der Stadt steht die historische Distanz von über zweihundert Jahren entgegen, d. h. die Erfahrung der Moderne und das Wachstum der Stadt auf beinahe das Zehnfache. Völlig anders geartet als zu jener Zeit, in der das Neumarktgebiet seine voll entwickelte Ausformung erhielt, sind heute die funktionalen und sozialen, die volkswirtschaftlichen, bodenrechtlichen und technischen Bedingungen beim Bauen im Zentrum einer Großstadt. 4 Den Beginn eines Epochenbruchs, der zu neuen Formen führte, hat schon Goethe für die Baukunst konstatiert: "... Je mehr wir das Charakteristische dieser Gebäude historisch und kritisch kennenlernen," notiert er 1815, "desto mehr wird alle Lust schwinden, bei der Anlage neuer Gebäude jenen Formen zu folgen, die einer entschwundenen Zeit angehören. Die neuere Neigung dazu ist aus dem falschen Triebe entstanden, der dasjenige, was er schätzt, auch unter völlig widersprechenden Bedingungen wieder hervorbringen will ..." 5 Auch die Residenzstadt Dresden wurde früh von diesem Wandel erfaßt, die Romantiker haben ihn bereits als eine frühmoderne Erfahrung verarbeitet. Die spezifischen Großstadtphänomene sind dann in Dresden seit Mitte des 19. Jahrhunderts voll wirksam und unter dem Stichwort "Citybildung" auch frühzeitig beschrieben worden. 6 Seit 1875 ging trotz des enormen Wachstums der Gesamtstadt die Einwohnerzahl in der Dresdner Altstadt zurück. Neben den Erscheinungen der zentralen Verdichtung bei gleichzeitiger Entmischung der Funktionen treten nach und nach jene zentrifugalen, antiurbanen Tendenzen in den Vordergrund, die heute die Zukunft der kompakten europäischen Stadt bei unvoreingenommener Betrachtung zumindest zweifelhaft erscheinen lassen: Suburbanisierung und Peripherisierung, standortunabhängige Produktion und Kommunikation, Entgrenzung des städtischen Raumes, Entmaterialisierung der städtischen Institutionen. Solchen Auflösungstendenzen zum Trotz erweist sich indes die traditionelle Stadt dort, wo sie die Eingriffe und Zerstörungen der Modernisierung baulich überdauerte, als überraschend anpassungsfähig, zweckmäßig und attraktiv - als eine bislang noch stets konkurrenzfähige Alternative zu neueren Formen kultureller Raumnutzung. Die Beispiele eines "angepassten" Wiederaufbaus, nach Kriegszerstörung oder Brand, haben sich in der Praxis vielfach besser bewährt als Versuche mit den radikalen Stadtmodellen der Moderne. Manchen zerstörten Städten (München, Hamburg, Nürnberg, Münster u. a.) ist es sogar gelungen, durch das konsequente Neubauen auf den alten Parzellen (bei ungestörter Besitzerstruktur) einen Abglanz ihrer Eigenart zurück zu gewinnen. Die Brauchbarkeit traditioneller Stadtstrukturen muss häufig selbst dort anerkannt werden, wo diese mit architektonisch belanglosen Imitationen besetzt wurden. Demgegenüber haben sich architektonisch qualitätvolle Solitärbauten oft genug als mangelhaft in der städtischen Praxis erwiesen. Wenn man sich in diesem Sinne um eine historisch gerechte Beurteilung der Lage bemüht, dann ist einerseits eine dichte, räumlich gefasste und möglichst kleinteilig durchmischte Stadt unbedingt weiterhin erstrebenswert. Andererseits ist eine konsequente Rückkehr zu den historischen Vorgängern - so wie sie mit Bildern des 18./19. Jh. suggestiv illustriert und der Öffentlichkeit vorgegaukelt wird - ausgeschlossen. Der Versuch wäre nicht nur aussichtslos, sondern auch zynisch. Nun werden Sie sagen: Aber das ist doch sowieso klar. Nun, wenn das so ist, wenn ein exakter Rückbau - abgesehen von der eher didaktischen oder musealen Rekonstruktion einiger Leitbauten - ausscheidet und für die einzelnen Blöcke und Häuser die freiere Form der Analogie gewählt wird, dann ist es nur folgerichtig, auch der äußeren Erscheinung, den Fassaden, das Prinzip der Analogie zugrunde zu legen und eine möglichst genaue Nachahmung erst gar nicht anzustreben. Unser Handlungsspielraum ist also städtebaulich recht eng und bescheiden: Einhaltung vorgegebener Raum- und Baufluchten, der First- und Traufhöhen, nach Kräften auch der Parzellen. Architektonisch kann er jedoch offener formuliert werden. Geht es doch darum, innerhalb dieses städtebaulichen Rahmens vernünftige architektonische Inhalte zu realisieren, also Häuser, die von den praktischen und künstlerischen Möglichkeiten, von der Realität der heutigen Stadt geprägt sind. Zu dieser Realität gehört der ganze Baubestand, einschließlich der wenig geliebten Zeugen der DDR-Zeit. Wesentlich gehören dazu allerdings auch immaterielle Faktoren, wie die Erinnerungen und Sehnsüchte nach schöneren, im Laufe der Baugeschichte entwickelten Stadtbildern. Das war früher nicht anders. Nur ist es schwer, authentische, leidenschaftlich anrührende Bilder durch baupolizeiliche Verordnung oder Zensur erzeugen zu wollen. Jeder Gestaltungsbeirat ist sich dessen bewusst. Damit sind wir bei dem Problem der Gestaltsatzung. In Dresden gab es wirksame Bausatzungen seit dem Mittelalter. Mancher möchte sie heute, möglichst strenger als je zuvor, wiederholt sehen, um den Spielraum des Einzelnen einzuschränken im Interesse eines größeren Ganzen. Das ist angesichts der durch jahrzehntelange Vernachlässigung abhanden gekommenen Baukultur verständlich. Aber es führt doch in die Irre, ist gerade nicht historisch gedacht, wenn heutige Satzungen sich an einem idealisierten Erscheinungsbild der spätbarocken Kleinstadt orientieren. Die erfolgreichen Bausatzungen früherer Zeiten waren ja nicht Ergebnisse gelehrsamer, rückwärts blickender Stadtästhetik, sondern fortschrittlichster Ausdruck praktischer und sozialer Erfordernisse. Wo sie - erst im Barock - auch die Gestaltung betrafen, machten sie von den avanciertesten künstlerischen und handwerklichen Errungenschaften Gebrauch, um die repräsentative Darstellung der absolutistischen Ständeordnung zu regeln. Sie waren hochmodern und wurden dementsprechend auch von der künstlerischen Elite der Zeit mitgetragen. 7 Natürlich sind auch heute räumliche und strukturelle Vorgaben für die Einzelbauten nötig, vor allem, wenn diese Vorgaben durch die existierenden unterirdischen Stadtreste buchstäblich untermauert werden. Sie sollten als mehrheitlich befürwortete Minimalregeln die Qualität des Ganzen, ein Mindestmaß an städtebaulicher Einfügung und Gliederung absichern. Weniger notwendig erscheinen hingegen Vorschriften zu den Einzelheiten der Gebäude, etwa zu historischen Kompositionsprinzipien und architektonischen Motiven. Ungeeignet schließlich dürften administrative Disziplinierungsversuche sein, um individuelle Bauwillige zur Nachschaffung eines Kunstwerks zu zwingen. 8 Wie sollte man aus den künstlerischen Leistungen vergangener Epochen eine rechtlich akzeptable Norm für heute ableiten? Da scheint die Vorbildfunktion der Leitbauten und der individuelle Einfluss eines Gestaltungsbeirats hilfreicher. (Hier mag einer der Gründe liegen, warum die vorliegende, sehr ins Detail gehende Satzung für den Neumarkt bislang nicht rechtskräftig geworden ist. Eingriffe in die Kunstfreiheit im Namen eines öffentlichen Interesses, das selbst keinen Verfassungsrang besitzt, wie die "öffentliche Ordnung", könnten als verfassungswidrig angefochten werden. Der absolutistische Ständestaat brauchte sich darum noch nicht zu kümmern.) Auch in früheren Epochen der Stadtreparatur gab man sich nicht damit zufrieden, Neubauten rein motivisch den Vorbildern anzugleichen. Das Mittel der Nachahmung (Mimesis) ist, wenn es äußerlich bleibt, ebenso unbefriedigend wie dasjenige des Kontrasts. Die Tradition des Bauens lehrt uns einen anderen Weg der Einfügung, der nicht formal, sondern inhaltlich-konstruktiv angelegt ist: die Analogie. Anstatt frühere Lösungen äußerlich nachzuahmen, geht es dann darum, deren innere künstlerische und technische Logik fortzuführen. Das hat das 19. Jahrhundert ja zum Teil erfolgreich exerziert. Was könnte das für die Neubauten am Neumarkt bedeuten? Neben einigen Palais und repräsentativen Barockhäusern war das Quartier durch Bürgerhäuser mit betont zurückhaltender Fassadengestaltung geprägt. Zum Teil waren sie beim Wiederaufbau nach den Zerstörungen des Siebenjährigen Krieges entstanden. Auch die in der Folge entstandenen Neubauten waren, unter dem Einfluss des französischen Klassizismus, gekennzeichnet von Ökonomie und dem Streben nach architektonischer Klarheit und Einfachheit. Sie traten dabei nicht traditionell auf, sondern ganz "à la mode moderne"! Ähnliche Bemühungen gehören aber auch zu den Grundlagen der modernen Architektur, exemplarisch sichtbar etwa im Werk eines Adolf Loos, Bruno Taut oder JJP Oud: Streben nach konstruktiver Klarheit und ehrlichem Ausdruck des Inhalts, zurückhaltende Artikulation des Einzelbaus gegenüber dem Ganzen der Stadt oder der Siedlung, Einfachheit und Ökonomie als Ausdruck ästhetischer Askese, aber auch aus sozialer Gesinnung. So fordert das Gebiet des Neumarkts dazu heraus, innerhalb des traditionellen Raumgefüges nicht nur einzelne Erinnerungsbilder nachzubauen, sondern - in Analogie zu den Vorgängerbauten - den überzeitlichen Prinzipien solider, sich in die Gemeinschaft einfügender Stadtarchitektur Ausdruck zu verleihen. Dazu bedarf es weder großartig visionärer noch musealisierender Gesamtlösungen. Die erfolgreicheren Antworten auf historisch vorgeprägte Orte in der Stadt zeigen uns eher ein maßstäbliches Flicken, einen architektonischen Realismus, der in seinen besten Momenten eine stille Poesie entfaltet. Und gerade die alten, noch nicht zerstörten Städte und Ensembles beweisen, dass die respektvolle Integration ganz und gar nicht den Verzicht auf innovative Architektur bedeuten muss. Eher ist das Gegenteil der Fall. Als Resumée bieten sich nun, je nachdem, wie man den Wunsch nach "Rekonstruktion" interpretiert, zwei alternative Szenarien an: Ein statisches, die vermeintlich "historische" Lösung: - Rekonstruktion verstanden als traditionalistische Utopie, bei der (nach dem Schema des goldenen Zeitalters) mit selektiven historischen Formen ein nicht minder selektives Bild einer vergangenen Epoche beschworen wird, - Reduzierung der Altstadt auf den musealen Nachbau eines "Raumkunstwerks", mit der Gefahr einer vielleicht geschmackvollen, doch kunstgewerblichen Stadtattrappe, - damit verbunden wohl Preisgabe der alltäglichen städtischen Funktionen und - weitere Polarisierung der Stadt in repräsentativ inszenierte "Altstadt" und "minderwertige" Randbereiche; und ein dynamisches, die urbanistische Lösung: - Rekonstruktion als Reurbanisierung, als unmissverständliche Reparatur, kritisch in dem Sinne, in dem jedes ältere Stadtquartier eine kritische Alternative darstellt zum Städtebau der Moderne; - Möglichkeit der Mischung individueller Ansätze auf der Basis überlieferter städtebaulicher Regeln und materieller Strukturen, - Zugeständnisse an städtisches Leben unter Verzicht auf das Planungsziel des großen, fertigen Kunstwerks, - Architektur als Debatte über die Bedeutung von Geschichte, - Bereitschaft zum Risiko der architektonischen Einfühlung, aber auch zur Banalität, anstelle eines verordneten Idealbilds. Die Entscheidung heißt also vereinfacht: ein bauhistorisches Modell oder ein Stadtzentrum planen? Wenn die Stadt Dresden nach dem Willen ihrer Bürger - den zu repräsentieren keine einzelne Gruppe beanspruchen sollte - ein ganzes Stadtquartier als Verkörperung eines kollektiven Kunstwerkes aufbauen möchte, wenn sie dabei ihr legitimes Utopiebedürfnis durch Geschichtsbilder stillen möchte - dann gibt es dafür heute nur einen akzeptablen Weg. Und dem müsste man dann, wie beim Wiederaufbau der Frauenkirche, auch allen Respekt zollen: Die Stadt erkennt sich selbst als Souverän, sie übernimmt die volle Verantwortung als kunstsinniger Bauherr und zeigt, dass dieses Bild, wie Dresden einmal aussah oder wie man möchte, dass es einmal aussah, den Bürgern selbst außerordentlich viel Wert ist. Sie plant und baut und zahlt selbst. Dann kann es "echt" werden. Auch dieser Historismus wäre authentischer Ausdruck der eigenen Zeit. Vielleicht ist das, angesichts der Kosten und der schwindenden kommunalen Planungsautorität, doch eine Utopie? Betrachtet man den Aufwand für die Neue Messe, für das überdimensionierte Straßennetz, schließlich auch für die Frauenkirche, so erscheint dieser "eigensinnige" Weg nicht gänzlich ausgeschlossen. Man könnte etwa über entsprechende Leasing-Modelle nachdenken. Indem man die erforderlichen Mehraufwendungen und Subventionen in stadtbürgerlicher Eigenverantwortung trägt, könnte man die Keller flächenhaft erhalten und bauliche Kleinteiligkeit und die erwünschte Wohnnutzung auch gegen die Dynamik der Citybildung durchsetzen. Die damit verbundene Langsamkeit der Maßnahme müsste nicht von Nachteil sein. Wenn aber die Stadt, als die Gemeinschaft aller Dresdner Bürger, diesen Kraftakt nicht leisten will oder kann, wenn sie vielleicht auch erkennt, dass der autoritäre Charakter einer solchen Großplanung an diesem Ort womöglich nicht angemessen wäre, dann empfiehlt sich der schlichte Optimismus und die Gelassenheit des großen Dresdner Kunsthistorikers Fritz Löffler: "Die Beachtung der Maßstäbe für die alte Innenstadt bleibt auch die Voraussetzung für den Wiederaufbau Dresdens... Im einzelnen kann der Architekt dann zu neuen Lösungen schreiten, ohne dass das Gesamtbild darunter leidet." Davon könnte man sich auch heute leiten lassen. Thomas Will ist Architekt und Professor für Denkmalpflege und Entwerfen an der Fakultät Architektur 1.
Überarbeitung eines Redebeitrags im Rahmen des "Atelier Neumarkt
2000" in Dresden, 20.10.2000
2. Die Wahrnehmung eines künstlerischen Niedergangs der Baukultur ist gerade in Dresden nicht neu, sondern durchzieht die Architektur- und Stadtkritik praktisch seit dem Ende des Augusteischen Zeitalters. 3.C. Benkert, Die Entwicklung des Dresdner Wohnhauses, München/Leipzig 1914; Wolfgang Zimmer, Leben am Neumarkt - eine sozialgeschichtliche Studie, in: Dresdner Hefte 13, Nr. 44 (4/1995), 37-46. 4. Allerdings wird gelegentlich verkannt, daß die größeren Städte schon zur Barockzeit einige der Symptome zeigten, die heute oft als Ursache mangelnder moderner Baukultur angesehen werden. So war etwa das ausschließlich als Renditeobjekt erbaute Zinshaus in Dresden bereist im 17. Jahrhundert verbreitet. Vgl. Benkert (wie Anm. 3), 50 ff. 5. Konzept zu einem Brief an L. F. Catel 6. Zimmer (wie Anm. 3), 43-46. - Vgl. auch Hermann Schmidt, Citybildung und Bevölkerungsverteilung in Großstädten, München 1909. 7. Da die Ratsverordnungen und fürstlichen Baureglements jedoch keine Vorschriften über das Innere der Häuser enthielten, verschlechterten sich gleichwohl die Wohnverhältnisse zumindest der einfacheren Bevölkerung mit der zunehmenden Verdichtung und dem Überhandnehmen der Miets- und Zinshäuser seit dem 18. Jahrhundert. Benkert (wie Anm. 3), 63 f. 8. Wichtiger wären positive Anreize. Wenn man schon auf die Gestaltvorschriften des Barock Bezug nimmt, sollte man bedenken, daß damals - z. B. beim Wiederaufbau der Neustadt nach dem Brand von 1685 - Steuerbefreiungen und Baubegnadigungen, allerlei Privilegien, ja sogar die Überlassung von Barmitteln üblich waren, um Anreize für die von der Regierung gewünschte einheitliche Bebauung zu geben. |