Wolfgang Schäche: Für ein Recht auf Rekonstruktion

Warum der Wiederaufbau eines Stadtschlosses nichts mit Unmoral zu tun hat
oder: Überlegungen zur Rekonstruktion zerstörter Gebäude im Allgemeinen




Die Rekonstruktion nicht mehr existenter oder nur fragmentarisch realisierter Bauwerke begleitet die Architektur durch ihre Geschichte: vom Weiterbau des nur als Torso vom späten Mittelalter auf das 19. Jahrhundert überkommenen Kölner Doms über den 1902/03 nach dem Einsturz wieder errichteten Campanile von San Marco in Venedig bis zur äußerlichen Wiederherstellung großer Teile der Münchner Innenstadt nach dem Zweiten Weltkrieg.
Diese Rekonstruktionen sind inzwischen selbst zu Denkmälern aufgestiegen und nie ernsthaft in Frage gestellt geworden. Erst die letzten Jahrzehnte haben eine fast unüberbrückbare Kluft zwischen gesellschaftlichen Ansprüchen an die Gestaltung des öffentlichen Raumes und der fachinternen architekturtheoretischen Diskussion aufgerissen

Bedeutet Kopieren Selbstmord?

Experten lehnen den Nachbau ausgelöschter Gebäudeexistenzen meist ab. Sie argumentieren mit einem - von einer vermeintlich "reinen Lehre" - gekennzeichneten Ausschließlichkeitsanspruch, der von der Objektivierbarkeit der eigenen Beweisführung überzeugt scheint. Gegenpositionen werden als lästig empfunden und ignoriert oder als reaktionär denunziert. So warnte Renzo Piano einmal vor dem Wiederaufbau des Stadtschlosses in Berlin mit den Worten: "Die Vergangenheit zu kopieren wäre für mich Selbstmord."
Und die Vereinigung der Landesdenkmalpfleger in Deutschland formulierte zur Debatte um Gebäuderekonstruktionen in Ostdeutschland bereits Anfang der neunziger Jahre eine Stellungsnahme: Man habe zwar Verständnis für den Wunsch, zerstörte Werke der Baukunst wiederzugewinnen, doch dieser Wunsch sei nicht erfüllbar, weil die überlieferte materielle Gestalt als Geschichtszeugnis unwiederholbar ist wie die Geschichte selbst.
Und der inzwischen verstorbene Architekturhistoriker Hanno-Walter Kruft brachte 1993 in einem Aufsatz "Rekonstrukion als Restauration" die unter Experten verbreitete Abneigung gegen Wiederaufbauten auf den Punkt. "Eine Rekonstruktion ist nicht primär ein urbanistisches, ästhetisches, technisches oder finanzielles Problem, sondern ein historisch-moralisches. Wenn ein Monument durch Zerstörung ausgelöscht ist, wird eine Rekonstruktion zur Geschichtsattrappe. Entscheidungen (zum Wiederaufbau) sind Ausdruck der Restauration und spiegeln einen orientierungslosen, historisch retrospektiven gesellschaftlichen Zustand ... Die Sprengung (des Berliner Stadtschlosses) sollte als sichtbarer Akt das Ende des preußischen Militarismus signalisieren. Aus ähnlichen Gründen wurde das Potsdamer Stadtschloss abgerissen. Man kann diese Handlungen verwerflich und barbarisch finden und die Verluste beklagen, aber man darf sie nicht rückgängig machen wollen, auch wenn man es technisch könnte. Wenn man es dennoch tut, so dokumentiert man seine Entschlossenheit zur Geschichtsmanipulation und begibt sich auf die gleiche Ebene wie die Barbaren, deren Schandtaten man kompensieren will."
Bemerkenswert ist, dass die zur inhaltlichen Ableitung des moralischen Anspruches herangezogenen Argumente zwar in sich geschlossen und logisch sind, ihre Prämissen jedoch nicht mehr reflektiert werden. Gerade sie aber erweisen sich als fragwürdig.
Da ist zum einen der Geschichtsbegriff: Den meisten Gegnern (aber auch Befürwortern) von Rekonstruktionen liegt die abenteuerliche Vorstellung von Geschichte zu Grunde, sie per se mit Vergangenheit gleichzusetzen. Die Hinterlassenschaften vergangener Zeiten werden vor diesem Hintergrund zu Zeugen, Dokumenten, Quellen geschichtlicher Vorgänge erklärt, die allein über ihre physische Existenz erfahrbar werden. Die Originalität eines Bauwerkes gewährleistet bereits "Wahrheit". Ein solcher Geschichtsbegriff aber entzieht sich jedem Gegenwartsbezug und führt in die argumentatorische Sackgasse.

Denn Geschichte für sich genommen ist sinnlos.

Nur aus der Konfrontation dessen, was wir unter Geschichte begreifen, mit der Gegenwart, so der deutsche Historiker Johannes Fried, lernt der Mensch: "Denn die Vergangenheit ist vergangen, Geschichte aber lebt. Sie ist als Gedächtnis immer Gegenwart, kann nichts anderes sein."
Vor dieser Einsicht relativiert sich dann auch die Vorstellung von einem (authentischen) Bauwerk als historischer Quelle der Vergangenheit: "Quelle", schreibt Johannes Fried, "ist ohnehin eine in die Irre führende Metapher. Sie assoziiert sprudelndes Leben, Unmittelbarkeit, lautere Wahrheit. Die Gegenstände, die mit diesem Namen belegt werden, haben aber von sich aus kein Leben... Hunderte von Historikern haben sich mit ihnen befasst, jedes überlieferte Detail umgedreht und ausgepresst. So traktiert, müssen die 'Quellen' längst erschöpft sein. Warum sind sie es nicht? Die Antwort ist einfach: Weil Historiker sie immer wieder künstlich beleben oder genauer: weil es keine Quellen, sondern Artefakte sind, tote Dinge, die erst Wert gewinnen, wenn ihnen subjektive Aufmerksamkeit geschenkt wird." Das auf diese Weise Konstruierte aber muss mit der nicht mehr real nachvollziehbaren Vergangenheit nicht deckungsgleich sein.
Da ist zum anderen der Authentizitätsbegriff. Die über Jahrhunderte aggressiv aufgeladene christliche Religionsvorstellung von der Einmaligkeit des irdischen Lebens und der Vergänglichkeit des Physischen wird unmittelbar auf die Architektur übertragen. So wie der Tod am Ende des Lebens steht und unwiderruflich erscheint, gilt die physische Auslöschung eines Gebäudes als irreversibel.
Eine Wiedergeburt erweist sich deshalb für Gebäude wie für Menschen als unvorstellbare Infragestellung der göttlichen Ordnung. Damit wird jeder Wiederaufbau eines einmal ausgelöschten Gebäudes zur Glaubensfrage und jeder rationellen Argumentation entzogen. Nur über das Authentische, die konkrete stoffliche Bindung also, wird in dieser Logik Vergangenheit durch Geschichte erlebbar. Die Errinnerung über reproduzierte Abbilderl, selbst die der bloßen ästhetisch-physischen Vergegenwärtigung, ist für dieses Denken Sünde.
Und da ist drittens die Abbildtheorie. Immer noch wird die für vorbürgerliche Epochen durchaus zutreffende Spiegelung gesellschaftlicher Realität in baulichen Zusammenhängen als Anspruch an die heutige Architektur gestellt. Sie soll sich, wie die historisch begriffene Architektur, kraft ihrer Gestalt untrennbar mit speziellen Zeitabschnitten verbinden lassen.
Daraus folgt die Forderung, dass gegenwärtiges Bauen sich ausschließlich als Ausdruck der Zeit zu erkennen geben muss. Da aber das pluralistische Prinzip demokratischen Selbstverständnisses die auf gesellschaftlichem Konsens beruhenden Konventionen, die Architektur zum Abbild der Gesellschaft machten, abgelöst hat, kann das Bauen schon längst nicht mehr über seine Erscheinungsformen substanzielle Aussagen über die herrschende Ordnung machen.

Keine rationalen Argumente

Architektur ist in ihrem Bedeutungscharakter beliebig geworden und nur noch individuell in ihrer Mitteilung wirksam. Damit aber greift die Forderung nach zeitgemäßer Architektur ins Leere, ebenso wie die Verdächtigung von Rekonstruktionen als Beschwörung vergangener Gesellschaftsformen.
So gibt es kein rationales Argument, welches den Nachbau physich nicht mehr existenter Bauwerke per se ausschließt. Die Entscheidung ist allein der sorgfältigen Abwägung aller mit dem Gebäude verbundenen Bedeutungsebenen sowie der Einbeziehung des ökonomischen, technischen, ästhetischen sowie des Zweckmäßigkeits- und Nutzungsaspektes verpflichtet, nicht aber fragwürdigen Geschichts- und Architekturtheorien.
Jede Reproduktion erweist sich hierbei als eine komplexe kulturpolitische Aufgabenstellung, die sich nicht auf die denkmalpflegerische Perspektive reduzieren lässt. Es kann nicht darum gehen, etwas zu pflegen, was physisch nicht mehr existent ist.
Eine Gesellschaft hat vielmehr das Recht bei dem erklärten Versuch, sich auf die Zukunft zu entwerfen, in Abwägung aller relevanten Argumentationsebenen selbst verantwortlich darüber zu befinden, welche Dimensionen sie der "Geschichte" und der Erinnerung einräumen will. Und das schließt die bauliche Vergegenständlichung von zerstörter Geschichte selbstverständlich mit ein.


(aus Berliner Zeitung vom 5./6.2.00 - Der Autor lehrt Architekturgeschichte an der Technischen Fachhochschule Berlin. Der Artikel erschien innerhalb der Dikussionsreihe "Zukunft Schloßplatz")