"Angriff der Zuckerbäcker"
 
Architektur als Zuckerbäckerei? - Kitsch und Kunst in Dresden


Die Februar04-ausgabe der Berliner Stadtzeitung "Scheinschlag" beschäftigt sich auf Ihrer Titelseite mit einer Konfliktsituation, die ziemlich genau in die Dresdner Widersprüche hineinragt: Vernachlässigung einer scheinbar ermüdeten Moderne und domestizierende, antimoderne Reflexe in historisierenden Bauten. Für Leser dieses Forums sicher nicht uninteressant:

Angriff der Zuckerbäcker von Johannes Touché

"Seit kurzem sind kulturbeflissene Berlin-Touristen auf der Suche nach baulichen Sehenswürdigkeiten nicht mehr allein auf Dumont und Dehio angewiesen. Der Stadtführer DDR-Baudenkmale in Berlin bietet einen neuen Blick auf die Stadt; der Schwerpunkt liegt auf den Sechzigern und Siebzigern. Nachdem die wenigen Bauten der klassischen, „heroischen" Moderne der Vorkriegszeit gerettet und musealisiert sind, wendet sich die Kunstgeschichte der Nachkriegsmoderne zu – „jenseits von Ostalgie-Parties und DDR-Shows", wie die Pressemitteilung lockt.

Das Interesse kommt fast zu spät. Etliche der Gebäude - der Palast der Republik und das Lindenhotel sind nur die prominenten Beispiele - werden die nächsten Jahre wohl nicht überleben. Andere, wie das Café Moskau, verfallen allmählich, wieder andere sind bereits zerstört: Stadion der Weltjugend, DDR-Außenministerium, Lindencorso, einige Pankower Botschaftsgebäude, das Ahornblatt ... Von den oft brutalen Umbauten und den modischen Designereien, denen nach und nach nahezu alle DDR-Bauten unterzogen werden, ganz zu schweigen.

Ganz anders die neoklassizistischen Protzbauten des Stalinismus. Sie sind ebenfalls sanierungsbedürftig und historisch weit stärker belastet als die bescheidenen spätsozialistischen Wohnwaben und Freßwürfel, aber die meisten werden liebevoll hergerichtet. Und auch die wenigen Beispiele originär postmodernen Bauens, wie die Altstadt-Imititate des Nikolaiviertels, bleiben erhalten.

Viele vermuten darum hinter der Abrißwut nicht einen Angriff auf die DDR, sondern auf die Moderne allgemein - oder vielmehr auf alles, was weder topaktuell noch „historisch" daherkommt. (...)

Auch die Fachwelt verteidigt die Entwurfsprinzipien der Moderne nur halbherzig, die Kunstgeschichte beschreibt sie wie historische Kuriositäten, den meisten Nutzern sind sie völlig fremd. Auch ein Jahrhundert nach Einführung des Betons gilt dieser ideale Baustoff als abweisend und grobschlächtig. Glas und Stahl sind zu Synonymen für Kälte geworden. Die ausgeklügelten Wohnmaschinen des Rationalismus sind als Legebatterien und Schuhkartons verschrien, die eleganten Wolkenkratzer als arrogant und unterkühlt. Außerhalb der Fachpresse weiß niemand so recht, warum eine „ehrliche", funktionale, echt moderne Konstruktion von Gestern besser sein soll als ein kitschiges Imitat von Vorgestern oder sonst ein manierierter Fassadenklamauk.

Die Moderne, ein Stil, der das Ende aller Stile sein wollte, ist selbst am Ende. Ihre wesentlichen Grundsätze: Wirtschaftlichkeit, Angemessenheit, Ehrlichkeit, werden in diesem verarmenden Gemeinwesen dringender benötigt als der dekadente Prunk der Regierungsviertel, Potsdamer Plätze und Stadtschlösser. Und dennoch wird die Moderne mißverstanden, entstellt und zerstört, mit der gleichen Brutalität und Gründlichkeit, mit der sie ihre Vorgänger beseitigte. Ausgerechnet diese Dummheit ist es, die von ihr bleibt."

(der ganze Artikel siehe Webseite
www.scheinschlag.de - Ausgabe Februar 04 - !)

Vieles gäbe es zu diesem Artikel zu erwidern.
Zum Beispiel - die "Entwurfsprinzipien der Moderne" sind tatsächlich keine letzten, unumstößlichen, ewig gültigen Wahrheiten. Die Moderne ist offenbar doch nicht das Ende aller Stile. Im Moment scheint die klassische Kastenmoderne in erfreulicher Bewegung zu sein: kantige Kuben beginnen sich plötzlich zu drehen, Säulen bekommen durch Schrägstellen eine wohltuende Dynamik und mehr denn je werden spielerisch mit Materialität und Oberflächentexturen neue Ufer ausgelotet. (im Bild: Schaulager von Herzog & de Meuron in Basel, 2003). Foto: T. Kantschew

__ Schaulager Basel im Gewerbegebiet von Herzog & de Meuron
Betonsegmente der Stadthalle von Chemnitz   Zudem - vieles von bewahrenswerter DDR-Architektur wurde bereits unter Denkmalschutz gestellt, so das Rundkino Dresden, der Uniturm in Leipzig oder die Stadthalle Chemnitz (siehe Bild links). Klar ist, daß bei drastisch verkleinerten finanziellen Spielräumen der Kommunen nicht alle DDR-bauten erhalten werden können. Auch diese sind keineswegs einer statischen Musealität unterworfen, sondern können und sollten, wenn es erforderlich ist, nachhaltig heutigen Nutzungen und Anforderungen angepaßt werden.
(Foto: T. Kantschew)


Ein Gebäude schmücken - Kitsch oder Kunst?


Der Autor des Scheinschlagartikels Touché, bemüht in erschöpfender Polarisierung einen eindimensionalen Blick auf die Dinge zu stülpen, verkennt zudem den keimenden Frühling einer neuen Lust am Ornamentieren. Junge Modemacher entdecken den dekorierenden Reiz bedruckter orientalischer Stoffe und verdrängen damit den antihedonistischen lustfeindlichen Minimalismus einer müden Avantgarde im Alten Europa.

"oil on linen" von Jude Rae - 2003Auch die Malerei entdeckt das tabuisierte Ornament auf's Neue und experimentiert mit ungewohnten Kontrasten (im Bild "oil on linen" der australischen Malerin Jude Rae 2003).

Nur die zeitgenössische Architektur betrachtet es als furchtbares Sakrileg, ein Gegenwartshaus zu schmücken und damit Ideale der Jetztzeit auch im Detail zu feiern. Offenbar trauen Architekten und Bauherren einem heutigen Zeitgefühl von Spaßkultur, Farbenreichtum und Freiheit immer weniger. Stattdessen Flucht in immer größere, aussagelosere Reduktion.




Kitsch und Kunst
- "kitschige Imitate"

Muster, Dekor ist nicht per se "Kitsch". Wenn von "maniriertem Fassadenklaumauk" die Rede ist, dann kann das durchaus ein berechtigter Vorwurf auf die oftmals fragwürdigen, nicht überzeugenden Versuche zutreffen, schmückenden Zierat an neue Fassden als entfremdete Applikation aufzutragen. Völlig unorganisch und beziehungslos kleben da an den grobgestalteten Wänden, handwerklich lächerlich gemacht, historisierende oder postmoderne Elemente, die einen Hama - Syrien 2004tatsächlich grausen.

Im nachsozialistischen Rußland oder im aufbrechenden Orient erlebt man zur Zeit, wie sich eine neureiche Mittelschicht in ausladend geschmückten Neubauten auf alteuropäische Weise repräsentieren will. Im Bild rechts: Neubauten in Hama, Syrien - November 2004.
Foto: T. Kantschew


Das Büro Behnisch, die Basler Architekten Herzog & de Meuron oder die Berlin-Britischen Baumeister Sauerbruch & Hutton zeigen indessen, wie man mit Farbflächen und Oberflächentexturen einen zeitgenössischen Bau auf neue Weise schmückend beleben kann.

Übrigens KITSCH - wir Deutschen haben ein ganz besonderes Verhältnis zu "Kitsch".
Nicht nur, daß dieses Wort aus dem Deutschen Sprachschatz stammt: ("kitschen" = wohl mundartlich für "streichen", "schmieren", also eigentlich "Geschmiertes") und daß es mittlerweile weltweit (auch im Englischen) für geschmacklose Äußerlichkeit gebraucht wird. Das Wort Kitsch tauchte just nach der Deutschen Reichseinignung 1871 auf - und zwar zuerst im Münchner Kunsthandel, als sich die Nachfrage nach billigen, sentimentalen, "soßenbraunen" Modebildern häufte. Später veränderte sich die Definition, was "Kitsch" sei, erheblich.
Mittlerweile wird "Kitsch" als ein revolutionärer Begriff gebraucht, der - zwar ironisch distanziert - selbstbewußt und stolz eine Welt des Gefühls jenseits Abstraktion und Vernunftprimat eindeutig bejaht. Gegenbewegung zur Intellektuellenwelt.

Die Brockhaus Enzyklopädie (1990) zum Begriff "Kitsch":


Kitsch als Botschaft


" (...) Die stärker soziologisch orientierte Betrachtung von "Kitsch" berücksichtigte auch die Produktionsbedingungen von Kitsch, so A. Moles der Kitsch als "Kunst" der Mittelklasse in einer Überflußgesellschaft bestimmte, während, basierend auf der Marxschen Warenanalyse in gesellschaftkritischen Versuchen Kitsch als Ware besonderer Art (Gefühl als Ware) aufgefaßt wurde. Im Anschluß an das Ende der 60er Jahre einsetzende Interesse an Massen- und populärer Kultur sowie in der Folge der gleichzeitig beginnenden sozialhistor. und ideologiekritischen Betrachtungen der tradierten normativen Kunstvorstellung gehen gegenwärtige Kitsch- Bestimmungen von einer Verbindung sozialhistor. und semiot. Ansätze aus. K. wird damit wie andere artifizielle Produkte als "Botschaft" verstanden, deren besonderer Charakter in einer vor allem auf die Gefühle zielenden harmonisierenden und affirmativen Objektgestaltung und Rezipientenansprache besteht, die aber gleichermaßen in ihrer konkreten Ausgestaltung von sozialhistor., psycholog. und ästhet. Rahmenbedingungen der jeweiligen Kommunikations-situation bestimmt wird.

Schöne Gefühle und Ausgrenzung

K. tritt in dem Maße in Erscheinung, in dem sich (seit dem 18. Jh.) einerseits ästhetisch-künstlerisch "anspruchsvolle" Kodes verfestigen und im Zuge der Verbreitung formaler Bildung und bürgerl. Wertvorstellungen auch auf andere soziale Gruppen und Schichten übergreifen und andererseits eine auf den Markt orientierte Produktion künstl. Produkte zunimmt. Entsprechend der Ausbildung auf "hohe" Kunst bezogenen Kanons und der Ausdehnung des Kunstmarktes entsteht die Bez. K. zum einen für das aus diesem Kanon Auszugrenzende, zum anderen für das, was durch die Ansprache entsprechend "schöner" Gefühle ausschließlich dem Markt- und Konsuminteresse dient. K. bezeichnet nun jenen Gebrauch von Mitteln, Formen und Inhalten, in dem bereits Etabliertes zur jeweiligen "gefühlskräftigen" Affirmation und Vervielfältigung eines bereits vorhandenen Harmoniebedürfnis eingesetzt wird.

Grenzen zwischen Kitsch und Kunst verschwimmen.

Die Definition des K. ist damit an die Möglichkeit einer Definition von "hoher" Kunst gekoppelt. Jedoch fördern gerade jüngste Tendenzen, die einerseits die Marktmechanismen in Richtung auf eine Kulturindustrie universalisieren und andererseits die tradierten Kodifizierungen in Frage stellen (Museumswürdigkeit des K.; intellektuelle Vorlieben des K.), nicht nur eine zunehmende Verbreitung von K., sondern machen auch den Gebrauch des Wortes K. in seinem historisch bestimmten Sinn (Unterscheidung zur Kunst) unmöglich. Daneben wird auch der Standpunkt vertreten, daß die der "hohen" Kunst zugeschriebenen Wirkungen wie Anstöße zur Reflexion, Erschütterung, Erheiterung und sogar (Selbst-) Erkenntnisprozesse ebenso von K. ausgehen können (U. Eco)."


Meyers Neues Lexikon, Leipzig 1973 - schrieb zu "Kitsch":

"Kunstsurrogat, dessen bestimmende Kennzeichen Glätte, billige Imitation, falsches Pathos, Mangel an Originalität und Ideengehalt, Verbreitung sozialer Illusionen, scheinbare Volkstümlichkeit sowie die Pervertierung ästhetischer Bedürfnisse sind. Der Begriff (...) wird gegenwärtig in umfassenderem Sinne auf massenhaft produzierte Erzeugnisse aller Zweige der kapitalistischen Kultur- und Vergnügungsindustrie angewandt. Die soziale Basis des K. ist die Unterordnung der bürgerlichen Kunstproduktion unter das kapitalistische Profitstreben, das im Imperialismus mit der ideologischen Massenbeeinflussung im Klasseninteresse des herrschenden Monopolkapitals verschmilzt. Der K. appeliert an sentimentale, aber auch aggressive Stimmungen und nutzt dazu Kunstgenres bis zur angewandten Kunst aus. (...)

Vor allem hilft der K. die grundlegenden sozialen Widersprüche des Imperialismus zu verschleiern und die Werktätigen zu hindern, die Wirklichkeit auch ästhetisch zu bewältigen. Der K. wie das reproduzierte Bedürfnis nach ihm trägt zur Stabilisierung des imperialistischen Systems bei. Deshalb ist er bes. zur kulturellen Manipulation der Volksmassen geeignet. Die erkenntnislosen Traum- und Wunschbilder, die der K. suggeriert, tendieren nicht nur zum Idyllischen, sondern ebenso zur religiösen Weltflucht (religiöser K.), zur nationalen Glorifizierung und zur brutalen Aggression (pseudoheroische Monumental-K.). Die zählebigen K.tendenzen werden im Verlaufe der sozialistischen Kulturrevolution überwunden, und zwar vor allem durch die Entwicklung einer volksverbundenen sozialistischen Kunst sowie die Ausbildung sozialistischer Kulturbedürfnisse der Werktätigen."



Auch am Dresdner Neumarkt wird es um die Frage gehen, Nachschöpfung europäischer Hochkultur oder triviale Surrogate? Konkret wird man dann genau hinschauen, wie die wenigen wirklichen Leitbauten als Rekonstruktionen umgesetzt (auch im Hauptgrundriß des Inneren, wie z.B. keine Einsparung der Innenhöfe wie beim Coselpalais) und mit welchem künstlerischen Anspruch die Mehrzahl der Neubauten errichtet werden. Da eine überzeugende Balance von Ernst, Ironie und Leichtigkeit zu finden scheint für die Revitalisierung der Altstadtbrache eine große Herausforderung sein.

T. Kantschew (09.02.04)


Buchempfehlungen zum Thema Kitsch und Kunst:

L. Giez: Phänomenologie des Kitsches (1971)
A.A.Moles: Psychologie des Kitsches (1972) - (aus dem Franz. 1978)
Kitsch. Soziale und politische Aspekte einer Geschmacksfrage, hrsg. von H. Pross (1985)
K. Deschner: Kitsch. Konvention und Kunst. Eine literarische Streitschrift (1987)
Umberto Eco: Apokalyptiker u. Integrierte. Zur krit. Kritik der Massenkultur (aus dem Italienischen 1987)

Zurück bzw. siehe auch zum Aufsatz: Schmücken und Moderne - Gesamtkunstwerk Neumarkt