Wo bleiben die reichen künstlerischen Traditionen Dresdens?
(...), daß selbst bei befriedigender Grundrißlösung
der Gebäude, selbst bei guter Anordnung der Räume, die Vernachlässigung
der künstlerischen Gestaltung und Detaillierung, die Mißachtung
der harmonischen Einfügung
der Gebäude in das Landschaftsbild den Wert der Wohnbauten wesentlich
beinträchtigen.
Betrachtet man
die Wohnungsbauten unserer Republik von dieser Seite her, wieweit sie
dazu beitragen, das Leben
der Industriearbeiter und der technischen Intelligenz in den Werken
reicher zu machen und
mit der landschaftlichen Umgebung ihres Arbeitsplatzes zu verbinden,
dann muß man feststellen, daß
diese Seite unserer Aufgaben bisher fast völlig
vernachlässigt wurde. Ebenso muß man sagen: die
Bauten
des Sonderprogramms haben noch nicht solche Formen angenommen, daß
der Dresdner oder
Chemnitzer das Gefühl hat, hier entstehen Neubauten im Zentrum
seiner Stadt, die ihn auf eine
vertraute Weise ansprechen.
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Ich möchte
in diesem Zusammenhang auf die Dresdner Wohnungsneubauten in der Grunaer
Straße eingehen. Wenn
wir die Grundrisse der ausgeführten Gebäude betrachten, so
entsteht zweifelos der Eindruck
einer einwandfreien Lösung. Die Anordung der Räume, ihre Größe,
das Verhältnis von Nutzfläche zur
Wohnfläche kann meines Erachtens, unseren gegenwärtigen materiellen
Möglichkeiten
entsprechend, als befriedigend betrachtet werden. Wie steht es aber
mit der künstlerischen
Gestaltung? Wir wissen, daß Dresden eine
der kostbarsten Perlen unter den schönen deutschen Städten
war. Vor
den Dresdner Architekten steht und stand die Aufgabe, die edlen Traditionen
dieser Stadt mit den großen Ideen unserer Zeit zu verschmelzen
und sie in künstlerisch und gesellschaftlich wertvollen Bauwerken
zu verkörpern. Niemand
wird daran zweifeln, daß sich unsere Kollegen in Dresden darüber
Gedanken gemacht haben,
auf welche Weise sie die Eigenarten dieser ehemals so schönen Stadt
zu neuem Leben erwecken können.
Dipl.-Ing. Bernhard Klemm, der die Bauten an der Grunaer Straße
entworfen hat,
veröffentlicht in Heft 6 der Zeitschrift "Planen und Bauen"
einen ausführlichen Artikel über diese Bemühungen.
Er vertritt dort die Auffassung, daß infolge der festgelegten
Geschoßhöhen von
3 Metern die typische Dresdner Fensterform mit ihrer ausgeprägten
Höhenbetonung nicht angewendet werden konnte.
Dipl.-Ing. Klemm schreibt über diese Frage folgendes:
"Dresden war die Stadt des Barock.
Seine typischen Wohnhäuser standen in engen Straßen auf schmalen
und sehr tiefen Grundstücken. Die
Forderung nach traditionellem Bauen konnte nun nicht so verstanden
werden, daß Motive,
die durch diese Gegebenheiten bedingt waren, bedenkenlos übernommen
werden.
So konnte beispielsweise das für jene Barockhäuser typische
Fensterformat mit einem Verhältnis von Breite zu Höhe wie
etwa 1:2 nicht wieder verwendet werden,
weil in den alten Häusern die Geschosse höher als 3 Meter
waren."
Dipl.-Ing. Klemm weist im folgenden darauf hin, daß er versucht
habe, gewisse
Anklänge an Dresdner Bautraditionen durch Anwendung von sogenannten
gekoppelten Türfenstern zu erreichen.
Leider widmet er diesen Fragen in seinem Artikel nur einen sehr geringen
Raum, und es bleibt offen,
ob diesen gestalterischen Problemen jene wissenschaftliche Sorgfalt
gewidmet wurde,
die sie verlangen. Eine Gegenüberstellung von
Dresdner Fenster mit Fenster vom Wohnblock Grunaer Straße kann
vielleicht als Anregung dienen, die
Frage näher zu untersuchen. Sehr aufschlußreich ist die Bemerkung,
daß man auf maches bereits Geplante,
wie auf reichen bildnerischen Schmuck
und kunstgeschmiedete Gitter, bei
der Ausführung aus "naheliegenden Gründen" leider
verzichtet werden mußte. Welche sind diese "nahegelegenen
Gründe"? Wahrscheinlich
sind mangelnde Mittel gemeint. Aber wo sind die zwei Prozent der Investitionssumme
geblieben, welche
die Regierung ausdrücklich bei unseren hervorragendsten Bauten
für bildkünstlerischen Schmuck vorschreibt?
Wenn man immer wieder bei unseren Bauten die Realisierung
dieser Regierungsverordnung hintertreibt, dann schlägt man damit
den Architekten und auch den
Bildhauern eine Gestaltungsmöglichkeit aus der Hand, die ihnen
die Regierung ausdrücklich zugebilligt hat.
Ein solches Vorgehen ist meiner Meinung nach ungesetzlich.
Es müßte ein Anliegen gerade der Dresdner demokratischen
Organe sein,
mit dem Oberbürgermeister an der Spitze die Pflege
und Entwicklung der reichen Dresdner künstlerischen Traditionen
zu verlangen.
In Dresden leben namhafte, in
ganz Deutschland bekannte Künstler, Bildhauer, wie Maler. Diese
Stadt hat ausgezeichnete Handwerker, wie
zum Beispiel bekannte Kunstschmiede. Diese Menschen haben ein Anrecht
darauf, ihre schöpferischen Kräfte bei der Gestaltung der
Bauten in ihrem Stadtzentrum zur Entfaltung zu bringen.
Es ist zu fragen, ob der Dresdner Stadtbaurat angesichts der großen
Bedeutung des Aufbaus dieser Stadt seinen Aufgaben gewachsen ist.
Wir müssen verlangen, daß eine Persönlichkeit für
die Planung Dresdens verantwortlich gemacht wird,
die vor allem in künstlerischer Beziehung das Vertrauen der Dresdner
Bürger verdient.
Man muß bedenken, daß unter den Männern, die für
die architektonische Gestaltung Dresdens verantwortlich waren,
sich stets die besten Namen der deutschen Architekten befunden haben.
Ebenso kann ich es nicht verstehen, daß die Dresdner Architekten,
Bildhauer
und Maler es sich gefallen lassen, wenn Bauten errichtet werden,
die nicht ihren Ansprüchen genügen. Ich möchte die Kollegen
fragen,
ob sie in der Entfaltung ihrer Kritik auf irgendeine Weise behindert
werden.
Prof. Hermann Henselmann (1905- 1995)
Tischler, Raumgestalter, später Architekt
1945- 1951 Direktor und Professor an der Staatlichen Hochschule für
Bauwesen Weimar
1951- 1953 Mitglied der Deutschen Bauakademie, Leiter einer der drei
Meisterwerkstätten, Direktor des Instituts für Theorie und Geschichte
der Architektur
1953 1959 - Chefarchitekt von Ostberlin
Chefarchitekt der Berliner "Stalinallee" mit Wohnbebauung
und Läden Berlin-Friedrichshain; ab 1952
1961- 1964 Haus des Lehrers und Kongresshalle, Berlin, Alexanderplatz
1966- 1970 Chefarchitekt des Instituts für Städtebau und Architektur
der Bauakademie
1968. 1970 Leninplatz, Berlin Friedrichshain
Universitätshochhaus Jena; 1970-1973
Universität (u.a. Hochhaus) Leipzig; 1968-1975
Mitarbeit: Fernsehturm (Alexanderplatz) Berlin-Mitte; 1965-1972
siehe auch: www.architekten-portrait.de/hermann_henselmann/
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