Bauwelt Heft 47.06 mit dem Heftthema "Wiederaufbau: Erinnern, bewahren oder neu schaffen?":

Altstadtmanufaktur Neumarkt
Von Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben in Dresden

Kritik: Ulrich Brinkmann

Wiederaufbau - das ist im Fall des Dresdner Neumarktes ganz wörtlich zu verstehen. Anders als der nahe Altmarkt, der bereits in den fünfziger Jahren mit den neobarocken Superzeilen auf der Ost- und Westseite und in den späten sechziger Jahren mit dem Kulturpalast auch auf der Südseite wieder eine Fassung erhalten hatte, präsentierte sich der Neumarkt noch am Ende der DDR als unangetastete Kriegsbrache, in respektvollem Abstand umstellt von den Wohnscheiben der heutigen Wilsdruffer Straße, dem Erweiterungsbau des Polizeipräsidiums aus den Siebzigern und einem Hotelbau aus den achtziger Jahren; in der Nordostecke der Schutthaufen, der einmal die Frauenkirche gewesen war.
       Als dieser sich wieder in den Protestantendom zurückverwandelte, wurde dem Besucher die Notwendigkeit einer maßstab- und rhythmusgebenden Fassung des eigenwilligen Barockbaus bewusst - die Entscheidung für den Wiederaufbau der Kirche mündete im Juni 1996 geradezu zwangsläufig in den Beschluss des Stadtrats, ihr den fehlenden Stadtraum nachzuschaffen und damit auch das erhalten gebliebene "Johanneum" und das "Landhaus" in den verlorenen Kontext zurückzustellen. Wiedererstehen sollten darüber hinaus die überlieferten Parzellen des Quartiers, seine einst steil verschachtelte Dachlandschaft - wichtig für den von vielen Touristen genossenen Blick von der Kuppel der Frauenkirche - und 25 "Leitbauten", entweder mitsamt ihrem dokumentierten Grundriss oder nur als zweidimensionale Wiedergänger ihrer selbst in Form einer stadtbildwirksamen Maskerade des jeweiligen Neubaus. Die "barocken" Fassaden sollten auf die Architekten mäßigend wirken beim Entwurf der übrigen Neubauten. Nicht "signature architecture" hieß ihre Aufgabe - diese hatte bereits Bähr geliefert. Entscheidend für die Erhebung eines Gebäudes zum "Leitbau" war allerdings nicht der künstlerische Wert des zerstörten Vorgängers, sondern die Frage, ob Dokumente überliefert waren, die eine Rekonstruktion ermöglichten.
        Mit der Kombination aus Rekonstruktion und kritischer Rekonstruktion geht der Wiederaufbau des Dresdner Neumarkts über vergleichbare Vorhaben der jüngeren Vergangenheit - man denke nur an Berlins Pariser Platz - also weit hinaus. Erarbeitet worden war das Konzept bereits im Jahr 1993 von einer Arbeitsgruppe der Architektenkammer Dresden. Im Januar 2002 wurde der Beschluss vom Stadtrat mit der Aufnahme von 15 weiteren "Leitbauten" aktualisiert, auf Druck der "Gesellschaft Historischer Neumarkt", die am liebsten jede Barockfassade neu erstehen sähe und mit einigem medialem Aufwand für dieses Ziel wirbt.
       
Ende September sind an den beiden Blöcken im Westen und Osten der Frauenkirche (die sogenannten Quartiere I und II) die Gerüste abgebaut worden; bereits im Frühjahr fertiggestellt wurde die Südostecke des Platzes (Quartier IV). Beteiligt waren jeweils mehrere Architekturbüros, die der Stadt und den Bauherren in verschiedenen Workshops und Wettbewerben ihre Eignung für die Aufgabe unter Beweis gestellt hatten.
        Ob es der neuen Altstadt gelingt, ein sonntags- und alltagstaugliches Stadtquartier zu werden, oder reicht es nur zu dem von Kritikern so gern beschworenen "Disney"-Effekt? Wie ernst genommen haben die Beteiligten die unter der Grasnarbe verborgenen Informationen? Und welche Unterschiede im Detail lassen sich an den drei bislang fertiggestellten Blö­cken ausmachen? Ein zweiter Blick lohnt sich auf jeden Fall, denn das geschlossene Bild, nach dem die Altstadtfreunde streben, zerfällt derart schnell in seine Einzelteile, dass dem Urteil über das Ganze eine Kritik des Einzelnen vorausgehen muss.
        Quartier I liegt in besonders begünstigter Lage: Begrenzt von Neumarkt, Augustusstraße, Töpferstraße und An der Frauenkirche, liefert der Block aus Blickrichtung Kulturpalast das Bindeglied zwischen Johanneum und Frauenkirche; kommt man von der Hofkirche, bildet er den Maßstab für die hinter ihm aufragende Kuppel der Kirche. Bis zur Zerstörung war dieses Areal mit 17 Häusern bebaut gewesen.
        Das Projekt ist der gewagteste Mix der bislang rekonstruierten Blöcke, doppelt lesbar als dreigeschossige Shopping Mall (in Untergeschoss, Erdgeschoss und 1. Obergeschoss), welche den Sockel bildet für neun Wohn- und Bürohäuser mit sechzehn Fassaden, oder als Konglomerat aus eigenständigen Häusern, deren Hof mit Glas und Stahl überdacht und mit vier Eingängen öffentlich zugänglich gemacht wurde. Das Gebäude mit der Adresse Neumarkt 2 ist das bislang einzige Beispiel für einen Komplettleitbau: das sogenannte Weigelsche Haus mit seinem achteckigen Hof. Rechts und links von ihm wurden insgesamt drei weitere Fassaden rekonstruiert; der Rest ist eindeutig der Gegenwart zuweisbarer Anpassungsneubau, gestaltet von den Architekturbüros von Döring, Rohdecan, Pfau und Woerner. Die archäologisch ergrabenen Keller des Quartiers mussten dem Wiederaufbau weichen - in diesem Block herrscht einzig die Zeitschicht 2006.
         Einer der Architekten, Kai von Döring, ist beteiligt an der Bauherrengemeinschaft - vielleicht ist auch dies ein Grund dafür, dass der Qualitätsmaßstab höher liegt als beispielsweise im Quartier IV schräg gegenüber. Denn das Wissen darum, dass die Qualität der zerstörten Architektur nicht nur in ihren Oberflächenreizen zu suchen ist, sondern auch in ihrer Materialität, hat den Leitbauten immerhin massives Ziegelmauerwerk beschert und ebenso massive Fenstergewände und Gesimse aus Sandstein.
          Die Anpassungsneubauten treten allesamt mit gestalterischer Ambition auf, vermögen allerdings unterschiedlich zu überzeugen: Während die von Rohdecan geplante Fassade durch die Variation von Details mit dem Thema "ein Haus mit zwei Gesichtern" spielt, misslingt dem benachbarten, vom Büro von Döring geplanten Gebäude mit seinem hohen Glasschlitz diese schwierige Balance. Und während das vom selben Büro entworfene Eckhaus Töpfer-/Augustusstraße mit seiner ausgewogen gegliederten Fassade präsent und unaufdringlich zugleich das Gassenkreuz zu einer kleinen Platzsituation erhöht, wirkt der steinerne, getreppte "Überwurf" auf der anderen Seite des Blocks (Woerner & Partner) vis-à-vis der Frauenkirche in diesem Kontext grob und laut.
          Die räumliche und gestalterische Definition der Eingänge verschiebt das Quartier im Ganzen schließlich in Richtung "dekorierter Superblock": Denn hervorgehoben sind die Eingänge in die Passage, die Zugänge in die einzelnen Häuser dagegen zeigen sich bis zur Selbstverleugnung marginalisiert. Janusgesichtig steht Quartier I wie fotografiert im Spagat zwischen der Forderung nach Rekonstruktion auf der einen Seite und der Ambition, etwas Zeitgenössisches zu schaffen, auf der anderen.
         Quartier II ist von anderer Beschaffenheit. Nicht nur, dass sich die Beteiligten entschieden, außer den von der Stadt festgelegten Leitbauten "Zum Schwan", "Zur Glocke" und An der Frauenkirche 13 auch die mit Aufmaßen und Fotos dokumentierten Fassaden an der Rampischen Straße zu rekonstruieren, sie verzichteten auch bei den beiden Anpassungsneubauten an der Salzgasse auf jede gestalterische Ambition. Wie im Quartier I sind auch hier die Gebäude massiv gemauert; stolz verweist Bauherr Uwe Gabler auf die Qualität der Stuckarbeiten, für die die gleiche Firma gewonnen werden konnte, die auch schon das benachbarte Coselpalais geschmückt hat, und auf zwei originale Fragmente: den Schlussstein des Hauses "Zum Schwan" und einen Engelskopf am Erker des Eckhauses Rampische Straße 1. Dieser hing jahrelang in einem Durchgang vom Neustädter Markt zur Rähnitzgasse. Die Eigentümerin, die ehedem städtische, in diesem Jahr privatisierte Woba, konnte überzeugt werden, die Spolie von ihrem Haus abzumontieren. Wie im Quartier I sollen Untergeschoss, Erdgeschoss und erstes Obergeschoss für Restaurants und Läden genutzt werden; eine kleine Passage wird das Blockinnere erschließen. Für die Obergeschosse zwei und drei wurde eine Bank als Mieter gewonnen, in den Dachgeschossen befinden sich Wohnungen, von deren Terrassen im Blockinneren der Blick auf die Kuppel der Frauenkirche fällt. Nettokaltmiete: 12 Euro. Auffällig ist die extreme Bebauungsdichte: Das Grundstück wurde bis auf Traufhöhe komplett mit Nutzfläche ausgegossen. Mit dem Anspruch "Rekonstruktion" hat man es dann auch nicht so genau genommen: Das Haus "Zur Glocke" etwa wurde mit einem zusätzlichen Vollgeschoss errichtet, und die horizontale statt vertikale Nutzungsstruktur macht das Projekt vollends zum maskierten Großblock. Barockes Dresden? Die Stadt ist genügsam, und den Touristen wird's als Hintergrund für ein Handyfoto reichen.
        Ganz und gar den Glauben an den Verstand der Verantwortlichen verliert, wer sich Quartier IV genauer anschaut. Nicht nur, dass sich die vermeintlichen Barockfassaden als aufgebrezelte Thermohaut über Stahlbeton entpuppen und auch hier fünf Fassaden eine einzige Nutzung, ein Hotel, kaschieren - die frei nachgeschöpfte Fassade des "Hotel de Saxe" lässt ein Gebäude auferstehen, das 1945, als Dresden im Bombenhagel versank, schon lange Geschichte war: Im Jahr 1888 hatte die Reichspost an seiner Stelle ein backsteinernes Postamt errichtet.
        Auch dieser Block birst vor Nutzfläche - so viel Nutzfläche, dass das erklärte Ziel der Neumarkt-Rekonstruktion, die historische Dachlandschaft nachzubilden, abhanden gekommen ist. Auch die historischen Keller sind zerstört worden. Details wie die fassadenbündigen Markisen sprechen jeder "barocken" Wirkung Hohn. Und den durch und durch gewöhnlichen Stahlbetonskelettbau zum Neumarkt hin mit Pseudodächern zu bekleben, dies erinnert an die Spätphase des Plattenbaus in innerstädtischen Lagen (die für die Planung verantwortliche Ipro Dresden ist Anfang der neunziger Jahre aus einem staatlichen Planungskombinat hervorgegangen). Was, bitte, soll dieser Spuk? Denn gerade hier, wo sich die ganze Paranoia der Neumarktrekonstruktion so grandios entblößt, zeigen wiederum zwei erkennbar zeitgenössisch gestaltete Fassaden - jene in der Landhausstraße vom Büro Woerner & Partner und die in der wiedergepflasterten Moritzstraße von Peter Zirkel -, dass die Architektur der Gegenwart sehr wohl in der Lage ist, städtische Atmosphäre zu erzeugen. Dass die Stadt Dresden, die Gesellschaft Historischer Neumarkt und die Bauherren der verbleibenden Quartiere aus dieser Erkenntnis eine Konsequenz ziehen, ist aufgrund des geltenden Baurechts nicht zu erwarten - vielleicht langt das Debakel im Quartier IV dazu, Konstruktion, Material und Detaillierung künftig mehr Beachtung zu schenken. Doch wer anderswo über Rekonstruktionen nachsinnt



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